Der Club der Anarchisten
Perlen von Holstein Folge 190
Zwergo hatte uns kurz nach Heiligabend zum Muppets- und Glühweinabend eingeladen. Damit hatte er eine alte Tradition wiederbelebt. Zu Siebenkittel-Zeiten soll dies ein alljährliches abschließendes Highlight gewesen sein. Ich hatte davon nichts gewusst: Knaben waren von dieser Zusammenkunft aus gutem Grunde ausgeschlossen gewesen. An dieser Regelung hatte Zwergo natürlich nicht gerüttelt. Wir waren ebenso eine reine Männerrunde gewesen. Für Zwergo eine gute Gelegenheit, uns von einem lange gehegten Traum zu erzählen.
«Leute, ich habe da schon seit längerem so eine Idee», hatte er gesagt, «Wie würdet ihr das finden, wenn wir freitags nach der Männerprobe alle noch eine Stunde länger bleiben und mal ganz ohne Herrn Kaiser ein paar richtig schöne Männerchor-Sachen singen. Der Gärtner und Abendständchen und so.»
Ich hatte weder den Gärtner, noch das Abendständchen gekannt. Das hatte aber wohl mehr über meine Allgemeinbildung als über den Bekanntheitsgrad dieser beiden Stücke ausgesagt. So wie Zwergo ihre Namen ausgesprochen hatte, schienen das ziemliche Schlager zu sein. Stücke also, die Herr Kaiser nicht mit uns machte. Und genau das war wohl der springende Punkt.
«Dann machen wir aber auch dieses Speisezettel, was die Männer vom Magdeburger Knabenchor gemacht haben», hatte ich gesagt.
«Ja, klar. Das können wir dann auch machen», hatte Zwergo erwidert, «Das wäre ja das Geile an der Sache, dass wir dann Sachen machen können, die Herr Kaiser niemals mit uns machen würde. Oder könntest du dir vorstellen, dass wir sowas wie Der Speisezettel bei ihm machen?»
«Nö, eher nicht.»
«Siehst du. Also, seid ihr prinzipiell damit einverstanden, dass wir uns mal erkundigen, ob es möglich ist, den Probenraum noch eine Stunde länger für uns offenzuhalten?»
«Prinzipiell schon, ich weiß nur nicht, ob ich jede Woche Zeit haben werde», hatte ich gesagt. Guido und David hatten ähnliche Bedenken angemeldet.
«Naja, muss ja jetzt nicht jede Woche sein», hatte Zwergo gesagt, «Wenn wir mal merken, dass wir alle keine Lust und keine Zeit haben, können wir das ja auch einfach ausfallen lassen. Das soll ja jetzt auch keine richtige Chorprobe sein, sondern wirklich vor allem aus Spaß. Also: Seid ihr dabei.»
«Wenn es wirklich nicht verpflichtend ist: Ja, klar.»
«Cool.»
In der ersten Probe des neuen Jahres wollte Zwergo nun Tatsachen schaffen. Gemeinsam mit uns ging er zu Herrn Kaiser und trug unseren Wunsch vor. Er rannte damit bei unserem Chorleiter mehr oder weniger offene Türen ein.
«Ja, also prinzipiell finde ich das natürlich gut, dass ihr das machen wollt», sagte er, «Den Raum eine Stunde länger offenzuhalten ist sicher auch kein Problem. Nach uns ist hier ja keiner. Wir müssten also wohl nur dem Hausmeister Bescheid sagen. Nur solltet ihr euch dann eurer Sache schon sicher sein. Wenn ihr jetzt plötzlich sagt: ‹Nee, doch nicht›, dann können wir uns die Mühe auch sparen.»
Seiner unverhohlenen Skepsis zum Trotze erklärte sich Herr Kaiser bereit, in der ersten Probe die Leitung zu übernehmen. Wer das in Zukunft tun würde, war nämlich noch gar nicht ausgemacht. Am ehesten kam wohl Philipp in Frage. Der würde dann aber im zweiten Bass fehlen, wo er dringend gebraucht wurde. Das galt umso mehr für Georg, unseren einzigen ersten Tenor.
Wenn Herr Kaiser die Leitung übernahm, wurden von ihm ausgewählte Stücke gesungen. Das stellte er auf vorsichtiges Nachfragen Zwergos noch einmal unmissverständlich klar.
«Es gilt, was immer gilt und was ich dir auch schon hundertmal gesagt habe: Wenn ich den Chor leite, bestimme ich, was gesungen wird.»
Ich rechnete damit, dass Herr Kaiser uns nun wieder Salve Regina oder das Magnificat von Dyson vorsetzen würde. Was er dann aber aus seiner Tasche hervorholte, war alles, aber nicht das. Statt abendländischer Chormusik standen Negro Spirituals auf dem Programm. Ich traute meinen Augen kaum. Würde Herr Kaiser jetzt wirklich Michael, row the boat ashore und Go down, Moses mit uns singen?
Er würde nicht, zumindest nicht in der mir vertrauten Form. Dort, wo auf den Noten von Spirituals normalerweise ‹Traditional› oder ‹Mündlich überliefert› stand, war der Name eines Komponisten vermerkt: Hans-Peter Preu. Nun war mir durchaus bekannt, dass man in ehemaligen deutschen Kolonien tatsächlich Schwarzafrikaner treffen konnte, die Vornamen wie Hans trugen. Die hießen dann allerdings nicht Preu mit Nachnamen. Ich vermutete, dass es sich bei dem Meister um einen Bekannten unseres Chorleiters handelte. Dafür sprach auch, dass die Noten handgeschrieben waren. Sehr unleserlich, wohlgemerkt. Wir konnten zuweilen nur mit Mühe bestimmen, welcher Ton zu welcher Stimme gehörte. Das eigentliche Problem aber war, dass das keine Musik war, die irgendeinem Menschen gefallen konnte. Statt Lebensfreude und verschlüsselter Rebellion wurden uns schwerfällige und äußerst eigenwillige Harmonien geboten. Eigenwillig hieß hier aber nicht modern oder erfrischend anders. Eigenwillig hieß hier nur eigenwillig. Genau genommen hieß es befremdlich. Philipps Reaktion jedenfalls war unmissverständlich.
«Boah, nee, was ist denn das für ein Scheiß», sagte er. Seinem Blick nach zu urteilen hätte er am liebsten in das Notenblatt hineingegriffen und den Verantwortlichen erwürgt.
Und obwohl Herr Kaiser alles wie immer machte, dauerte es ungewöhnlich lange, bis wir die Töne einigermaßen verinnerlicht hatten. Am Ende waren wir uns einig: Diese Stücke wollten wir auf gar keinen Fall noch einmal singen.
Die nächste Probe fand ohne Herrn Kaiser statt. Die Frage, wer uns stattdessen leiten sollte, war indes noch immer nicht beantwortet. Notgedrungen entschieden wir uns dafür, ein Ensemble ohne festen Leiter zu sein. Erfahren wie wir waren, würde es doch wohl genügen, wenn sich hin und wieder einer ans Klavier setzte und die zu singenden Töne vorspielte. Damit das schnell und unkompliziert vonstattengehen konnte, bildeten wir einen Kreis um das Instrument. Zwergo teilte den Gärtner und das Abendständchen aus, wir sangen los. Zumindest versuchten wir das. Es gestaltete sich jedoch unerwartet schwierig. So ganz ohne instrumentale Begleitung ein neues Stück zu lernen war nicht so einfach, wie wir gedacht hatten. Für den Anfang musste wohl doch jemand dauerhaft am Klavier sitzen und mitspielen. Georg übernahm dies.
Nach einer Dreiviertelstunde hatten wir die Noten mehr oder weniger drauf. Wir versuchten uns an einem Durchlauf ohne Klavierbegleitung. Er misslang. Ich musste mehrfach aussetzen, weil ich meine Töne nicht mehr fand. David, Philipp und Imanuel erging es ähnlich. Die Abschlussharmonie sangen wir zwar alle wieder mit, sie war jedoch deutlich tiefer als sie eigentlich sein sollte. Kein Resultat, das unseren Ansprüchen genügt hätte. Wir beschlossen deshalb, stattdessen Vere languores von Antonio Lotti zu singen.
Vere languores war ein Phänomen. Obwohl es zu Siebenkittel-Zeiten fester Bestandteil des Männer-Repertoires gewesen war, konnte ich mich nicht daran erinnern, es jemals gehört zu haben. Ich beherrschte dennoch jede einzelne Note davon. In ihnen lag eine Geborgenheit, die mich unweigerlich an jene seligen Wochen nach der Amerika-Reise und an das Killerspiel Age of Mythology denken ließ. Ich sah vor mir, wie ich mit den Helden Arkantos und Ajax durch das nächtlich erleuchtete Troja lief. Ich wusste, dass es nichts gab, vor dem ich mich fürchten musste. Oben in den Wolken saßen Zeus und Athene und wachten über mich. Schon bald würde ich wieder über ein azurblaues Meer segeln und über die Wunder staunen, die mir auf meinen Wegen begegneten. Von Wundern zeugte bekanntlich schon die Eingangssequenz der Titelmusik. Und hatte man ein Level erfolgreich abgeschlossen, fragte das Spiel nicht: ‹Fühlen Sie sich bereit, das nächte Level zu spielen?› Es fragte: ‹Die Reise fortsetzen?› Zeiten, an die ich nur mit Wehmut zurückdenken konnte. Der viel zu seichte Schwierigkeitsgrad hatte mich damals nicht gestört. Für die bei mir geweckten Empfindungen war er ja nun auch zwingend notwendig gewesen.
Eine auf den ersten Blick schon etwas verwunderliche Assoziation. Zwar war es wohl richtig, bei Vere languores an die Zeit der Amerika-Reise zu denken. Gewiss gab es keine zwei Wochen in meinem Leben, in denen das Stück öfter erklungen war. Doch war die Amerika-Reise ja nun ganz eindeutig die Zeit von Battlefield 1942 gewesen. Age of Mythology war da allenfalls eine Randerscheinung gewesen. Zumindest offiziell. Battlefield 1942 war, wenn ich ehrlich war, vor allem eine Frage des sozialen Prestiges gewesen. Mein Bedürfnis nach einer Welt zum Eintauchen hatte es nicht ansatzweise stillen können. Age of Mythology hatte das schon eher. Ich hatte das nie wirklich zu schätzen gewusst. So wie ich es auch nie zu schätzen gewusst hatte, dass unsere damaligen Männer wie Zeus und Athene über uns gestanden und mit ihren väterlichen Stimmen Vere languores gesungen hatten. Anderenfalls würde ich mich doch wohl daran erinnern, wo ich doch jede einzelne Note des Stücks beherrschte.
Vere languores mussten wir nicht lange proben. Nachdem wir uns einige Minuten sämtlichen potentiell gefährlichen Passagen gewidmet hatten, konnten wir uns auch schon an einem ersten Durchlauf versuchen. Er gelang bravourös. Ein Erfolgserlebnis, das freilich nichts daran ändern konnte, dass die meisten von uns in der darauffolgenden Woche verhindert waren. An den beiden Freitagen danach musste die Probe ebenso ausfallen. Ein ganzer Monat sollte vergehen, ehe wir uns erneut am Gärtner und am Abendständchen versuchen konnten.
«Also wenn ihr jetzt doch keine Lust dazu habt, sollten wir uns den Aufwand, das mit dem Hausmeister zu klären, vielleicht von vornherein sparen», sagte Herr Kaiser, als er Zwergo den Schlüssel übergab.