In höchsten Nöten
Perlen von Holstein Folge 193
Der U-Bahnhof Gänsemarkt liegt tief unter der Erde. Tief genug, um einem nuklearen Angriff standzuhalten. Er kann deshalb im Falle eines Falles zu einem Schutzraum umfunktioniert werden – die entsprechenden Einrichtungen sind unsichtbar, aber vorhanden. Der U-Bahnhof Gänsemarkt liegt tief unter der Erde. Entsprechend lange dauert es, mit der Rolltreppe an die Oberfläche zu gelangen. Und entsprechend beschämend ist es, eine zu weite Anzughose ohne Gürtel zu tragen. Ununterbrochen schien das blöde Ding den Weg nach unten zu suchen. Zwar war meine Hüfte breit genug, mich vor Schlimmerem zu bewahren, wohl war mir deswegen trotzdem nicht. Wann immer ich konnte, zog ich die Hose hoch. Effizienz war mir dabei wichtiger als Diskretion. Die Leute um mich herum hatten wohl ohnehin längst bemerkt, wie es um mein Beinkleid stand.
Wie hatte mir das nur passieren können? Normalerweise bemerkte ich es spätestens beim Losgehen, wenn meine Anzughose rutschte. Sie tat es mit so viel Genuss, dass ich es einfach bemerken musste. Ich hatte es vorhin wohl doch entschieden zu eilig gehabt. Und nun hatte ich den Salat. So lächerlich war ich mir das letzte Mal vorgekommen, als ich mit bösen Halsschmerzen das Killerspiel Delta Force: Black Hawk Down gespielt hatte. Den Elitesoldaten zu mimen und dabei einen kalten Umschlag zu tragen, das war selbst mir zu viel.
Endlich an der Erdoberfläche angekommen, musste ich zum Glück nicht mehr lange laufen. Die Finanzbehörde befindet sich direkt an einem der Ausgänge des U-Bahnhofs. Welcher das war, wusste ich nur zu gut. Ich hatte hier einmal ein Schulpraktikum absolviert. Dabei hatte ich auch eine in dem Gebäude schlummernde Attraktion kennengelernt: Einen voll funktionsfähigen und zudem öffentlich zugänglichen Paternoster. Ich hatte meinem Deutschlehrer davon erzählt. Er war so begeistert davon gewesen, dass er ihn bei der nächsten Exkursion mit uns aufgesucht hatte.
Am Paternoster würde ich heute jedoch nicht einmal vorbeikommen. Unser Auftrittsort befand sich in einem anderen Teil des Gebäudes. Es war nach dem Informationsstand unseres Chorleiters ein Raum, der echte Schwimmbadakustik bot. Ein für Chorkonzerte eher ungeeignetes Merkmal. Wohl deshalb war er weitestgehend leer geblieben, als mein kleiner Bruder Jannik hier vor einigen Tagen mit dem Kinderchor Cantemus aufgetreten war. Meine Mutter hatte Herrn Kaiser deshalb dringend empfohlen, möglichst viele Eltern zum Kommen zu animieren. Unsere Hochkarätigkeit alleine würde die Reihen heute nicht füllen. Dabei war der Eintritt sogar frei. Geld sollte bei der angeschlossenen Kunstauktion erwirtschaftet werden. Das Ganze war eine Benefizveranstaltung für irgendetwas.
Für die Kunstauktion hatte man zwei Versammlungssäle freigeräumt. Unsere Auftrittsstätte dagegen war kein Raum im eigentlichen Sinne. Eher ein breiter, in Maßen repräsentativer Gang. Woher er seine Schwimmbadakustik nahm, war schnell ausgemacht: Überall standen quadratische Säulen mit quadratischen Mosaiksteinchen. Leidlich schön und kein bisschen funktional. Einen wesentlich erfreulicheren Anblick bot da schon Zwergo. Grund war sein freundliches Grinsen. Und der Gürtel, den er mir reichte. Meine Mutter hatte mein Missgeschick natürlich längst bemerkt und ihn angerufen.
‹Wenn ich dich nicht hätte – und die kleinen Kartoffeln. Dann müsste ich große essen›, hätte Opa Max jetzt gesagt.
Die Kunstauktion fand wahrscheinlich irgendwann nach unserem Konzert statt. Die Bilder waren bereits jetzt aufgestellt. Wir nutzten die Zeit zwischen Generalprobe und Konzert, um sie in Augenschein zu nehmen. Am besten gefielen uns zwei Bilder von stilisierten Raubkatzen, deren Augen geradezu plastisch waren. Ebenso auf positive Resonanz stießen die Muster, die ein Künstler auf Karopapier gezeichnet hatte.
«Haha, das sieht voll aus wie sowas, das man im Matheunterricht malt, weil man sowieso nichts versteht», sagte ich.
«Ja», entgegnete David, «das sieht echt nach dem Ergebnis einer langweiligen Mathestunde aus.»
Eher umstritten war dagegen ein scheinbar harmloses Motiv einer Landschaft in der Toskana.
«Das finde ich geil», sagte ich.
«Was ist denn daran geil?», erwiderte Leonard, «Das ist doch überhaupt nichts Besonderes. Da hat jemand einfach nur eine Landschaft gemalt, die man genauso gut fotografieren kann. So hat das doch überhaupt keinen künstlerischen Wert.»
Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass der umgängliche Leonard ein solch kritischer Geist war. Ich musste zugeben, dass er Recht hatte. Schön fand ich das Bild dennoch auch weiterhin. Was lud schließlich mehr zum Träumen ein als Bilder von italienischen Landschaften? Ganz gleich, ob sie nun gemalt, fotografiert oder von der Grafikkarte meines Computers erzeugt worden waren.
Die Kunstausstellung war schlecht besucht, unser Konzert hingegen gut gefüllt. Das lag aber vor allem daran, dass tatsächlich ein Aufruf an die Eltern ergangen war, möglichst zahlreich zu erscheinen. Ich erblickte eine Menge flüchtig bekannter Gesichter.
In der ersten Reihe saß ein älterer Herr in bläulicher Kleidung, die ihn als Offiziellen auswies. Als nun die Veranstaltung begann, erhob er sich und schlurfte zur Bühne. Gemessen an der Länge der Strecke brauchte er hierfür erstaunlich lange. Mit senil-gutmütigem Blick schob er die Seiten seines Manuskripts zusammen. Dann redete er los: «Ich freue mich begrüßen zu dürfen – freue mich begrüßen zu dürfen: Die Knaben des Knabenchors – die Knaben des Neuen Knabenchors– des Neuen Knabenchors aus Berlin!»
Er erwartete nun wohl einen Begrüßungsapplaus. Der blieb aber aus. Stattdessen herrschte betretenes Schweigen. Jürgen erlöste den Mann.
«Hamburg», rief er.
«Hä?», erwiderte der Mann.
«Wir sind aus Hamburg.»
«Achso – Na, letztes Mal war das in Berlin, deshalb dachte ich –»
Das Publikum lachte freundlich.
Mit ‹letztes Mal› meinte er wohlgemerkt nicht ‹vergangene Woche› oder ‹gestern›, sondern letztes Jahr.
Nachdem der Herr zu seinem Platz zurückgeschlurft war, begann das eigentliche Konzert. Wir sangen Tantum Ergo von Maurice Duruflé. Ein für diesen Meister ungewöhnlich dramatisches Stück, zumindest, was die Bass-Linie anging. Sie stand unüberhörbar in Moll, in kompromisslos schmachtendem Moll. Bereits nach fünf Tönen ging es so richtig zur Sache. Ein Quintsprung führte unseren Gesang in waghalsige Höhen, von denen wir uns nur schrittweise wieder herunterwagen durften. Jener Quintsprung wurde in der ersten Strophe auf den Wortteil Sacra gesungen, welches zwei As enthalt. Ein Vokal, der in derartigen Höhen regelrecht dazu einlädt, ihn so laut wie nur möglich zu singen. Ich machte von dieser Möglichkeit regen Gebrauch. Sehr zu Belustigung Philipps. Philipp konnte sich über meinen Gesang generell zuweilen mehr amüsieren als über meine Bemerkungen und Erzählungen. Er lachte sich auch darüber krumm und schief, wie ich in der zweiten Strophe des Wort quoque aussprach. Er legte mir auch die Gründe hierfür dar, ohne dass ich in der Lage gewesen wäre, diese nachzuvollziehen.
Tantum Ergo besaß eine erstaunliche Gemeinsamkeit mit dem Kyrie von Mozart. Monate, bevor es Bestandteil unseres Repertoires geworden war, hatte Herr Kaiser es bereits versuchsweise mit uns geprobt. Außer mir war diese Gemeinsamkeit natürlich wieder keinem aufgefallen. Von mir auf sie angesprochen, hatte Herr Kaiser nur einmal mehr seine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen können, was ich alles behielt. Das war gut. So würde er wohl nicht bemerken, dass das Stück auch eine erstaunliche Gemeinsamkeit mit O nata lux von Thomas Tallis besaß: Aus unerfindlichen Gründen war es unmöglich, seinen Text auswendig zu lernen. So sehr ich mich auch mühte, immer setzte es bei mir nach wenigen Worten aus. Ich war interessanterweise nicht der einzige mit diesem Problem. Guido hatte mir Ähnliches berichtet.
Heute konnte uns das beiden Gottlob egal sein. Die anwesenden Eltern waren wohl vornehmlich mit ihren eigenen Söhnen beschäftigt. Zudem stahl der ältere Herr heute selbst unserem Chorleiter die Show. Nach dem fünften Stück erhob er sich völlig unvermittelt und schlurfte zur Bühne. Gemessen an der Länge der Strecke brauchte er hierfür erstaunlich lange. Das war jedoch wohl nicht der Grund für Herrn Kaisers ratlose Blicke.
Endlich war der ältere Herr vorne angekommen: «Ich möchte noch einmal ganz persönlich danken: Ulrich Kaiser und dem Neuen Knabenchor Hamburg.»
«Eigentlich sollen jetzt noch weitere Stücke kommen. Wollen Sie die jetzt nicht mehr hören?», fragte Herr Kaiser.
«Doch, ich wollte es nur noch mal sagen.»
Das Publikum lachte freundlich.