Hoist with his own petard

Perlen von Holstein Folge 195

Der zweite Abend im Sunderhof verlief ruhig. Die Knaben, die gestern noch so emsig gelärmt hatten, legten sich heute anstandslos in ihre Betten. Eine der begrüßenswerteren Folgen eines Tags voller Proben. Es ging dermaßen gesittet zu, dass niemand auf die Idee kam, die Betten der Knaben zu filzen. Auf die Idee wäre wahrscheinlich aber auch im Falle äußersten Krawalls niemand gekommen. Wer konnte schon ahnen, dass ein Knabe einen Böller mit zum Probenwochenende genommen hatte? Wer hätte auch nur an die Möglichkeit gedacht, dass dieser Knaben jenen Böller einem Zimmergenossen unter das Kopfkissen legen würde?

Passiert war Gott sei Dank nichts. Der Knabe hatte den Knallkörper ja nun nicht angezündet. Von selbst hochgegangen war er auch nicht. Das änderte nichts daran, dass es eine Situation war, die rigoroses Durchgreifen erforderte.

Zwergo begab sich deswegen gleich beim Frühstück zu Herrn Kaiser. Der hatte sich zu uns Jungmännern an den Tisch gesetzt. Offenbar ging er davon aus, dass man ihn hier in Ruhe lassen würde. Das nämlich schien es zu sein, was der Mann gerade wünschte. Er verzehrte seine Mahlzeit, ohne auch nur den Blick vom Teller abzuwenden. Dies tat er auch nicht, als er nun Zwergo neben sich bemerkte.

«Was gibt es, Alexander?», fragte er mürrisch.

«Ich muss dich mal kurz sprechen, Ulrich», entgegnete Zwergo.

«Kann das nicht bis nachher warten?»

«Es geht um die Frage, ob ich einen Knaben vorzeitig nach Hause schicken soll oder nicht.»

«Um welchen Knaben geht es denn?»

Zwergo sagte den Namen des Knaben.

«Schick ihn nach Hause», erwiderte Herr Kaiser, ohne zu zögern und ohne den Blick vom Teller abzuwenden.

Philipp und ich lachten. Wir wussten: Die Reaktion unseres Chorleiters hatte nur bedingt etwas damit zu tun, dass er beim Frühstücken eben in Ruhe gelassen werden wollte. Sie hing vor allem mit dem Namen des Knaben zusammen. Ein Name, der in den Proben schon häufig gefallen war. Meist, weil der dahintersteckende Knabe wiederholt wegen irgendetwas hatte ermahnt werden müssen. Wohl deshalb schien es unserem Chorleiter ganz recht zu sein, einen Grund zu haben, es dem Jungen einmal tüchtig zu zeigen. Zwergo hatte ihn ja gerade in aller Form dazu legitimiert.

Der Junge wurde nach Hause geschickt. Ohne viel Aufhebens zu machen, versteht sich. Seinen Eltern so eine Sache erklären zu müssen, war ja nun auch Strafe genug. Erst wenn er weg wäre, sollte die Sache publik gemacht werden. Die Frage, welche Worte Zwergo dabei wählen würde, interessierte Philipp, Guido und mich natürlich brennend. Sie war demzufolge gleich die erste, was wir mit ihm in dieser Affäre besprachen.

«Da kommt doch bestimmt wieder sowas wie: ‹Und dann süffelt ihr aus den Flaschen! Und dann seid ihr nächste Woche wieder alle krank!›», sagte ich zu Zwergo, «Also wahrscheinlich: ‹Leute, wenn so ein Ding im falschen Moment hochgeht, dann macht es einmal bumm! Und dann ist die Hand ab.›»

«Fast, Lennart», erwiderte Zwergo, «Ich werde sagen: ‹Dann macht es einmal bumm, dann ist die Hand ab. Und dann muss Mutti euch immer beim Schuhzubinden helfen.›»

Wir lachten uns halbtot.

Unser Chorleiter kam Zwergo jedoch zuvor. Er hatte sich nach dem Frühstück letztlich doch genauestens über den Vorfall informiert und wusste nun Bescheid. Der Böller – ein knabenunterarmlanges Teil – lag zu Probenbeginn neben ihm auf dem Klavier. Dort lag er jedoch nicht lange. Herr Kaiser nahm ihn in die Hand.

«Leute, seht ihr, wie groß dieser Böller ist?», fragte er, «Könnt ihr euch vorstellen, was passiert, wenn so ein Ding in die Luft geht, während ihr es in der Hand haltet? Ich kann es euch sagen: Der Doktor wird euch den einen oder anderen Finger amputieren müssen. Und jetzt stellt euch vor: Diesen Böller, den hatte gestern Nacht niemand in der Hand. Den hat ein Knabe einem anderen Knaben unter das Kopfkissen gelegt. Nicht, weil er ihn umbringen wollte. Einfach nur, weil er nicht eine Sekunde darüber nachgedacht hat, welche Folgen das haben kann. Aus purer Gedankenlosigkeit. Versteht ihr?»

Herr Kaiser sprach damit an, was das eigentlich Tragische an der Sache war. Der Junge war kein Karlsson vom Dach, dem vor allem deshalb niemand beikam, weil er die Auswirkungen seiner Streiche stets absehen konnte. Ein Michel aus Lönneberga war er aber nun einmal auch nicht. Michel aus Lönneberga hatte bekanntlich stets nur Gutes im Sinn. Seine Handlungen hatten jedoch schlimme Folgen, weshalb sie ihm als Streiche ausgelegt wurden. Der Knabe hatte wohl nicht unbedingt Gutes im Sinn gehabt, als er den Böller unter dem Kopfkissen seines Zimmergenossen platziert hatte. Schlimme Kopfverletzungen und bleibende Hörschäden aber hatten wohl kaum zu seinen Absichten gezählt. Er hatte ihre Möglichkeit schlicht nicht bedacht. Er hatte wohl einfach witzig sein wollen.

Eigentlich hatte die morgendliche Ansprache unseres Chorleiters ja von etwas ganz anderem handeln sollen. Unser ehrwürdiger Männergesangsverein sollte heute zum ersten Mal seit seinem Bestehen Damenbesuch erhalten. Ein lettischer Mädchenchor war bereits auf dem Weg zu uns. Zwergo hatte unserem Knaben deshalb bereits ins Gewissen geredet: «Tut mir einen Gefallen und duscht vorher, damit ihr nicht wieder stinkt wie die Iltisse.»

Wir hatten tatsächlich allen Grund, einen guten Eindruck bei den Mädchen hinterlassen zu wollen. Für den Dezember war eine gemeinsame Hollandreise mit ihnen geplant. Soviel war bereits bekannt. Was wir nicht wussten: Es würden nicht alle mitkommen.

«Es ist leider so», sagte Herr Kaiser, «dass der Bus, den wir zur Verfügung gestellt bekommen, nur vierzig Plätze hat. Da wir über fünfzig Sänger sind, könnt ihr euch ausrechnen, dass nicht alle reinpassen werden. Ich stehe nun also vor der wirklich schwierigen Aufgabe, zu entscheiden, wer mitkommen darf. Ich sage euch ganz offen, dass das etwas ist, was mir nicht gefällt. Ihr müsst nämlich wissen, bei uns im Dresdner Kreuzchor war das so, es gab Listen, da stand drauf: Der erstbeste Sopran, der zweitbeste Sopran, der drittbeste Sopran und so weiter. Wenn der Chor verreist ist, durften von jeder Stimme nur sieben Sänger mitkommen. Und das waren – ihr könnt es euch schon denken – natürlich die ersten sieben Personen auf der Liste. Der achtbeste Sopran, das war immer der Arsch. Als ich euer Chorleiter wurde, habe ich deshalb gleich gesagt, dass es bei mir sowas nicht geben wird. Bei mir soll immer jeder mitkommen dürfen. Ihr könnt mir glauben, dass ich mir die Entscheidung für oder gegen einen Sänger nicht leicht machen werde. Ich werde deshalb bestimmt noch einige schlaflose Nächte haben. Aber, natürlich: Wenn einer einem anderen Knaben einen Böller unter das Kopfkissen legt, dann muss ich mich schon fragen: Kann ich den mit auf Reisen nehmen?»

Der lettische Mädchenchor traf nach dem Mittagessen ein. Die Bezeichnung Mädchenchor war dabei durchaus wörtlich zu nehmen: Die jüngsten waren acht, die ältesten maximal vierzehn Jahre alt. Zumindest soweit ich das einschätzen konnte. In ihren altertümlichen Trachten sahen sie zu possierlich aus, um für älter gehalten zu werden. Dazu ihre großen, blauen Augen und ihre betont kindliche Mimik. Sowas gab es doch sonst nur in Heimatfilmen und Anime-Serien.

Und dann öffneten sie den Mund und sangen uns an die Wand. Sie waren uns dermaßen überlegen, dass sie es nicht einmal nötig hatten, diese Überlegenheit offen zur Schau zu stellen. Im Gegenteil: Ihr Repertoire war so uneitel wie dessen Darbietung. Sie sangen ein deutsches Kinderlied. Es handelte von Instrumenten. Die Mädchen in der ersten Reihe imitierten mit ihren Händen das Spielen dieser Instrumente.

Ein Anblick, bei dem einem einfach warm ums Herz werden musste. Zumindest ab einem gewissen Alter. Die Knaben sagten sich wahrscheinlich gerade: ‹Ih, Mädchen!›, wie man das als zehnjähriger Junge eben tut. Gerade deswegen konnten wir wohl darauf setzen, dass sich unsere Jüngsten heute Mühe geben würden. Die Männerehre würde es ihnen schließlich gebieten, sich von einer Mädchentruppe nicht übertrumpfen zu lassen. Das von Herrn Kaiser für diesen Anlass ausgesuchte Stück konnte ebenfalls optimistisch stimmen: Wir sangen Die Heilung des Blinden von Gustav Gunsenheimer, dem Komponisten von Jesus und die Tochter des Jairus.

Die Heilung des Blinden verhielt sich zu Jesus und die Tochter des Jairus wie Serious Sam: The First Encounter zu Serious Sam: The Second Encounter. Es war im Grunde genau das gleiche Stück. Die Bauart war gleich, der Inhalt war gleich, nur dass dieses Mal eben keine sterbenskranke Tochter, sondern ein Blinder geheilt wurde. Herr Gunsenheimer hatte auf Nummer Sicher gesetzt. Eine weise Entscheidung. Jesus und die Tochter des Jairus hatte uns gefallen, also gefiel uns jetzt natürlich auch Die Heilung des Blinden.

Am beliebtesten war bei uns Männern die Stelle, an der wir in die Rolle des Blinden schlüpften und sangen: ‹Jesu, du Sohn Davids, erba-arme dich mein!› Das klang wunderschön arabisch. Bedauernswerterweise hatte Herr Kaiser uns verboten, das allzu sehr hervorzuheben. In seinen Augen entsprach das nicht der Absicht des Komponisten. Jener hatte hier wohlgemerkt eine Menge geistiger Arbeit geleistet, wie ich im Gespräch mit Philipp erfuhr. Ich schwärmte von der Schlusswendung: ‹Tre-euer Jesu bleib bei mir, gehe vor, i-ich fo-olge dir.› Für mich waren diese Töne Klang gewordene emotionale Überwältigung. Ich spürte eine Hingabe, eine Geborgenheit und einen Zusammenhalt, wie ich ihn sonst nur in japanischen Fantasy-Killerspielen erlebte. Philipp erklärte nüchtern, dass es sich bei diesen Tönen um eine sogenannte Tenorklausel handele. Er war jedoch auch recht angetan von ihnen.

Die Heilung des Blinden war ein gern gesungenes Stück und lief immer gut. Nur heute, heute lief es schlecht. Heute schienen unsere Knaben es unserem Chorleiter schmackhaft machen zu wollen, eine Auswahl treffen zu müssen. Seinem Blick nach zu urteilen notierte er in Gedanken bereits, wen er ganz bestimmt nicht zum Reisekader ernennen würde. Wir sangen hier schließlich nicht vor irgendeinem Publikum falsch, sondern vor einem, dass das auch hörte. Als die Mädchen weg waren, gab es ein langes Krisengespräch.


Das Chorwochenende war zu Ende. Im Nachgang sollte es noch eine kleine Premiere geben: Zum ersten Mal würden Philipp und ich erleben dürfen, wie David Auto fuhr. Sein Vater hatte das Fahrzeug hergebracht und bestand nun darauf, dass Sohnemann es zurückmanövrierte. Die durch den Führerschein entstandenen Ausgaben sollten schließlich nicht umsonst gewesen sein. So wurden Philipp und ich nun Zeugen, wie David etwas widerwillig die Hände um das Lenkrad legte. Ein schon etwas ulkiger Anblick. Die gleichen Hände waren es, mit denen David so oft mit mir um die Vorherrschaft über den Service-Knopf im Reisebus gekämpft hatte. Und nun führte er mit ihnen ein Fahrzeug. Ein nicht einmal ganz billiges wohlgemerkt. Wirklich amüsant. Fast so amüsant wie das, was aus dem Radio erschallte.

«Der Sprit wird immer teurer und man wartet darauf, dass er mal billiger wird. Doch der Sprit wird nicht billiger. Doch das macht nichts, denn bei uns gibt es –

music snippet

– Fre-eisprit»

Wir drei bekamen einen fürchterlichen Lachanfall.

«‹Fre-eisprit›», imitierte Philipp die Stimme des Sprechers, «Oh, Mann.»

«Am geilsten war ja wohl diese völlig bescheuerte Jingle», entgegnete ich.

«Ja», sagte David, «das war ja wohl echt mal die billigste Jingle aller Zeiten, hahaha.»

Es gab eben noch immer kaum etwas Lustigeres, als wenn Dinge durch Musik als das Beste hingestellt wurden, was der Menschheit je passieren konnte. Als überzeugter ÖPNV-Nutzer konnte ich mich ohnehin immer wieder nur darüber wundern, wie Tankgutscheine als verlockende Gewinne präsentiert wurden. Gab es schließlich etwas Unromantischeres als eine Ladung Benzin? Wir jedenfalls hatten unseren Spaß daran. Wegen der bevorstehenden Auslese für die Hollandfahrt brauchten wir uns im Übrigen keine Sorgen zu machen. Die betraf nur die Knaben.