In dieser Stadt
Perlen von Holstein Folge 196
April 2008
Ein weiterer Gottesdienst in St. Johannis-Harvestehude war geschafft. Nicht mehr lange und ich würde wieder zuhause vor meinem Computer sitzen. Der schnellste Weg dorthin war der Bus zum Bahnhof Dammtor, von wo ich mit der S-Bahn weiterfahren würde. Eine kurze, angenehme Strecke, die jedoch einen Haken hatte: Ich musste sie stets alleine zurücklegen. Jemand anders aus dem Chor fuhr sie nicht. Heute hätte ich sie theoretisch mit meinen Eltern bereisen können, doch die waren beide nicht gekommen. Nur allzu bereitwillig ließ ich mich deshalb von Philipp dazu überreden, den Umweg über den Bahnhof Altona zu nehmen. Gemeinsam bestiegen wir den Bus.
Der üblichen Auftrittsauswertung samt hämischen Kommentaren über die Leistung der Knaben folgte ein Gespräch über die Wise Guys, Philipps Lieblings-A-Cappella-Popgruppe. Auch ich schätzte die Burschen inzwischen so sehr, dass ich neben einigen Raubkopien auch zwei gekaufte CDs von ihnen mein Eigen nannte. Zwei mehr als von den Ärzten, die ich so lange als meine Lieblingsband bezeichnet hatte, deren Lieder mir in jüngster Zeit aber immer seltener gefielen.
Zu den beiden von mir gekauften CDs zählte Frei, das neueste Album. Philipp besaß es natürlich ebenso und hörte es rauf und runter.
«Alleine das Lied Meine Deutschlehrerin hat bei mir einen Zählerstand von fünfhundert oder so», sagte Philipp.
«Ehrlich? Magst du das so? Ich finde das irgendwie bescheuert und möchtegernlustig.»
«Ach, ich finde das eigentlich ganz cool: ‹Aber ihr lieb ich noch immer, sie raubt mich heute noch den Sinn: Meine Deutschlehrerin.› Aber das mit dem hohen Zählerstand erklärt sich dadurch, dass ich das Lied mal in der Endlosschleife gehört habe, als meine Mutter mich gerufen hat. Und dann bin ich stundenlang unten geblieben und das lief dann halt natürlich immer weiter.»
«Ach so. Naja, wie gesagt, ich finde das bescheuert. Diese ganze Idee, ein Lied über eine Deutschlehrerin in falschem Deutsch zu machen, ist ja nun nicht so wahnsinnig originell. Was ich mag ist Die ersten warmen Tage mit diesen Harmonien zu das ist so gut wie Schokolade und eiskalte Limonade, das fängt echt so gut dieses Gefühl ein, wenn nach Wochen zum ersten Mal wieder die Sonne scheint.»
«Hm, naja, das finde ich wiederum bescheuert. Geil ist auf jeden Fall Paris.»
«Ja, das ist cool.»
Wir sangen gemeinsam: «Ich nehme zärtlich ihre Hand, draußen der erste Autobrand – oh, ein Peugeot – ein hochromantischer Moment – und ein Renault – als bald die halbe Straße brennt.»
Wir waren so sehr mit uns selbst beschäftigt, dass wir zunächst nicht mitbekamen, dass der Bus nicht weiterfuhr. Das änderte nichts daran, dass die Fahrt zu Ende war. Der Fahrer öffnete die Türen und bat alle Fahrgäste, den nächsten Bus zu nehmen. Es war jedoch ein herrlicher Frühlingstag. Der Weg zum Bahnhof Altona war nach unserer Einschätzung zudem nicht mehr weit. Philipp und ich entschieden uns gegen das Warten auf den nächsten Bus und für einen Spaziergang im Sonnenschein.
So schlenderten wir nun die Max-Brauer-Allee entlang. Eine Straße, die wir beide infolge schier unendlich vieler Busfahrten in- und auswendig kannten. Ich zumindest kannte jedes Detail. Es gab hier Dinge, die sich niemals veränderten. Dazu zählten etwa die Rollläden an einem prominent platzierten Geschäft. Sie waren stets heruntergefahren und zeigten seit Jahr und Tag das gleiche Graffito: Ein überlebensgroßes Bildnis einer Tennisspielerin, deren rosageschecktes Höschen unter dem Rock hervorlugte. Der Anblick hatte mich als Kind immer maßlos aufgeregt, ohne dass das einen tatsächlichen Grund gehabt hätte. Ich wünschte mir trotzdem bis heute, die Rollläden würden zu den Dingen in der Max-Brauer-Allee gehören, die sich laufend änderten. Das waren Inhalt und Inhaber einiger Geschäftsräume. In die Hausnummer 271 zum Beispiel war schon wieder ein neuer Laden eingezogen.
«Guck mal», sagte ich zu Philipp, «‹Kluge Mädchen›. Ich geb’ dem Laden drei Monate.»
«Ich geb’ ihm zwei», erwiderte Philipp und lachte.
«Sag mal», sagte ich, «Der wievielte Laden ist das jetzt eigentlich da drin, seitdem wir diesen Weg zur Probe fahren? Der zehnte?»
«Kommt hin», antwortete Philipp.
Wir bekamen einen Lachanfall.
«Weißt du», gluckste Philpp, «bei uns in der Straße, da gibt es so sechseckiges Häuschen, da sind auch in den letzten drei Jahren sechs Läden drin gescheitert, hahaha. Erst war da ein Hundefriseur drin, dann das ‹Diabetes-Zentrum Hamburg›, hahaha. Ich meine: Alleine schon ‹Zentrum› in so einem winzigen Häuschen, hahaha.»
Wir waren mittlerweile bei der St. -Johanniskirche angelangt. Ein beeindruckendes Bauwerk, das zur Unterscheidung von St. Johannis-Harvestehude einfach nur St. Johannis hieß. Ich hatte es schon Tausende Male gesehen, allerdings immer nur von außen. Ein Jammer, wie ich fand.
«Die Kirche dahinten ist mal voll geil», sagte ich, «Eigentlich könnten wir da drin doch gut mal einen Auftritt machen, oder?»
«Ja», erwiderte Philipp, «schon merkwürdig, dass wir da noch nie drin gewesen sind. Dabei ist die schön groß und ja wohl deutlich zentraler gelegen als die Kaffkirche von Ramelsloh.»
«Haha, ‹die Kaffkirche von Ramelsloh›. Naja, wenn Herr Kaiser nicht in der Kirche hier auftreten möchte, können wir hier ja ein reines Männerkonzert machen. Und dann singen wir ein paar von deinen Kompositionen.»
«Oh, ja.»
«Wie weit bist du eigentlich mit deiner ersten Fuge?»
«Da komme ich gerade nicht so richtig voran. Sowas zu komponieren ist doch ganz schön schwer. Viel schwerer als so einen kleinen Chorsatz. Da merkst du erst mal wirklich, was Bach eigentlich für ein geiler Komponist ist.»
Seit einem Jahr, vielleicht auch schon länger, betätigte sich Philipp als Hobby-Kompositeur. Zu seinen bisherigen Werken zählten ein vierstimmiger, von Schütz inspirierter Chorsatz, ein Trio für Bass und zwei Tenöre in h-Moll und der Anfang einer Fuge in D-Dur. Philipp hatte mir Midi-Fassungen von ihnen zugeschickt und mich um mein fachkundiges Urteil gebeten. Mit einem solchen hatte ich ihm nicht dienen können. Von Satztechnik, Formen- und Harmonielehre verstand ich überhaupt nichts. Ich konnte nur sagen, ob mir etwas gefiel oder eben nicht gefiel. Philipps Kompositionen gefielen mir. Ich fand es zudem irgendwie lustig, jemanden zu kennen, der komponierte. Wer konnte das schon von sich sagen? Wer hatte schon das Glück, mit einem kleinen Genie befreundet zu sein?
«Ey», sagte Philipp, «du hast doch bestimmt von den Windsbachern die CD Chormusik vom Frühbarock bis zur Spätromantik.»
«Klar», erwiderte ich, «wenn man eine CD von den Windsbachern hat, dann doch wohl die.»
«Oh, ja. Besonders, wenn man einen Chorleiter hat, der ständig die Stücke von denen macht. Die Windsbacher sind aber auch sowas von krass gut, Alter. Wenn du dir alleine Wenn ein starker Gewappneter von Brahms anhörst. Das würdest du mit unseren Knaben niemals machen können, die würden das so verkacken, so schwer, wie das ist.»
«Wirklich? Naja, ich mag diese Brahms-Sachen auf der CD nicht so. Was ich richtig geil finde, ist Wie liegt die Stadt so wüst von Mauersberger.»
«Hm, naja, ich kann damit nicht so viel anfangen.»
«Du musst das öfter hören. Am Anfang mochte ich das auch nicht, weil das ja doch recht schief und modern ist. Aber irgendwann kam dann der Punkt, wo ich das Stück verstanden hatte und dann kriegst du da echt so eine Gänsehaut davon. Alleine die Stelle: ‹Er hat ein Feuer aus der Höhe in meine Gebeine gesandt, und es la-a-assen wa-alten›. Das ist sowas von heftig. Was ja auch so krass ist: Das ist eigentlich ein Text aus der Bibel, passt aber so gut zur Zerstörung von Dresden im Zweiten Weltkrieg. Darauf bezieht sich das Werk ja.»
«Ach so? Keine Ahnung, mit dem Stück habe ich mich nicht so befasst. Cool finde ich aber auf jeden Fall Das ist meine Freude.»
«Ja, das ist absolut kultig. Wie da immer schon das ‹Das› betont wird. Als würde wirklich nur ‹das› einem Freude bereiten und sonst nichts anderes.»
Wir sangen gemeinsam: «Das – Das – Das – ist meine Fre-eude. Das – Das – Das – ist meine Fre-eude. Meine Freu-eu-eu-eu-eu-eu-eu-eu-eu-eu-eu-eu-eude, das ist meine Freu-eude, dass ich meine Zuversicht setze auf den Herren.»
Als wir zu Ende gesungen hatten, bemerkte Philipp: «Echt geil. Nur leider auch wieder so ein Stück, das du mit unseren Knaben nicht machen kannst. Alleine diese ausgedehnten Koloraturen. Die würden doch nie im Leben zwei Mal hintereinander klappen.»
«Und dann kommt ja noch dazu: Selbst die Sachen, die du mit den Knaben machen könntest, würden nicht ansatzweise so geil klingen wie bei den* Windsbachern. *Os justi von Bruckner zum Beispiel ist von den Tönen her bestimmt gar nicht so schwer. Jedenfalls nicht viel schwer als die von seinem Locus iste und das haben wir ja auch hinbekommen. Aber wie geil meditativ der Anfang von Os justi bei den Windsbachern klingt. Das würden wir in hundert Jahren so nicht hinbekommen.»
«Ja – Aber Bruckner ist sowieso genial. Die Sinfonien von dem sind echt die besten, die es überhaupt gibt.»
«Wirklich? Ich kenne die gar nicht. Ich habe nur die von Beethoven.»
«Ja, die von Beethoven sind auch genial. Aber die Bruckner musst du unbedingt mal hören.»
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es mag schon verwundern, dass ein Fugen-Freund wie Philipp ein solcher Anhänger Bruckners ist. Bruckner nämlich gestattete sich, seinem Lehrer Simon Sechter eine Fuge vorzulegen, die an einer Stelle bewusst gegen eine Kompositionsregel verstieß. Ein kapitales Verbrechen. Bruckner berichtet: «Als nun mein Lehrmeister zu der gefürchteten Stelle kam, schüttelte er bedenklich den Kopf. Dann blickte er mich vorwurfsvoll an, erhob den Zeigefinger und sagte grollend: ‹Mir scheint, Sie sind auch einer von denen –!›»
Philipp und ich hatten unser gemeinsames Ziel erreicht. Am Bahnhof Altona trennten sich unsere Wege. Philipp würde den Rest seines Weges mit dem Bus zurücklegen, ich musste hinunter zur S-Bahn. Am Bahnsteig angekommen, erfuhr ich, dass mein Zug erst in fünfundzwanzig Minuten fahren würde. Ich nahm es mit Gleichmut zur Kenntnis.