Selbstrauswurf
Perlen von Holstein Folge 197
Mai 2008
Heute war eine meiner letzten Proben. In vier Monaten würde ich nicht mehr Mitglied dieses Chores sein. Eine Ära würde zu Ende gehen. Eine Ära, die dann immerhin zwölf Jahre und fünf Monate gewährt hätte.
Derlei Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich heute den Probenraum betrat. Gedanken, die mir merkwürdig und unwirklich erschienen. Gedanken, die ich eigentlich nicht haben wollte. Ich würde mich jedoch an sie gewöhnen müssen. Es waren nämlich vor allem Gedanken, die die Wirklichkeit abbildeten.
Die Zusage war vor drei Tagen gekommen. Im September würde ich ein Freiwilliges Soziales Jahr beginnen. In der tiefsten Provinz Brandenburgs. Entschieden zu weit weg, um jede Woche nach Hamburg zu pendeln. Auf Freiwilligkeit beruhte mein soziales Jahr dort entsprechend nicht wirklich. Eher auf den Einfällen eines übereifrigen Musterungsarztes.
Sieben Monate war es her, dass ich einen allzu vertrauten Weg angetreten war. Das Kreiswehrersatzamt lag nur wenige hundert Meter von der Jugendmusikschule entfernt. Ich hatte mich trotzdem noch nie dort aufgehalten. Wie sollte es auch anders sein bei einer Straße, deren Bewohner Mehrfamilienhäuser nur aus Erzählungen zu kennen schienen? Zumindest, wenn man nach einem beiläufigen Blick auf ihre Villen urteilte. Und mehr als einen beiläufigen Blick waren sie mir nicht wert gewesen. Ich war überzeugt gewesen, hier nie wieder herkommen zu müssen, felsenfest davon ausgegangen, dass das mit dem Ausgemustertwerden eine reine Formsache war. Wer mich einmal hatte rennen sehen, wusste, wie himmelschreiend unsportlich ich war. Die Vorstellung, mich mit Knarre und Tornister durch den Dreck robben zu lassen, war schlichtweg absurd.
Meine Erwartung, ausgemustert zu werden, hatte ich von Anfang an klar kommuniziert. Ich war davon ausgegangen, damit offene Türen einzurennen. Niemand Geringeres als Marc hatte sich schließlich einst gegenüber Zwergo amüsiert: «Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass die den beim Bund nehmen!» Der Musterungsarzt jedoch war bedeutend wohlmeinender gewesen. «Sie sollten schon überlegen, ob Sie nicht mal ein bisschen an der Optik arbeiten wollen», hatte er mit Blick auf meinen Oberkörper gesagt, «Ich meine: Sie wollen doch im Sommer bestimmt schon mal an den Strand gehen, oder?» Ich hatte das für eine allgemeine Feststellung gehalten. Und war aus allen Wolken gefallen, als man mir den Tauglichkeitsbefund überreicht hatte.
Den Ratschlag des Musterungsarztes hatte ich den Wind geschlagen. Noch am selben Tag hatte ich meine Verweigerung eingereicht. Zur Truppe würde mich niemand kriegen. Wo ich stattdessen hingehen würde, hatte ich natürlich nicht gewusst. Wahrscheinlich in eine Jugendherberge. Die Zivildienstleistenden, denen ich dort so begegnet war, hatten auf mich nie einen sonderlich überarbeiteten Eindruck gemacht. Meine Mutter aber hatte wie üblich eine bessere Idee gehabt. So ein Freiwilliges Soziales Jahr im Bereich Kultur würde meinen Interessen doch viel mehr entgegenkommen. Zudem machte es sich gut im Lebenslauf. So hatte ich mich für den Einsatz in den Großräumen Hamburg und Berlin beworben. Und Stellen in Ostfriesland und Brandenburg angeboten bekommen.
Es lag schon eine gewisse Ironie darin, dass es mich nun nach Brandenburg verschlagen würde. Jenes Bundesland, das mir erst seit zwei Monaten überhaupt ein Begriff war – durch die reichhaltige Musiksammlung meines alten Freunds David. Inzwischen konnte ich eines aus eigener Erfahrung sagen: Die Schilderungen von Menschenleere waren nicht übertrieben gewesen. Die Vorstellung, hier wohnen zu müssen, hätte mich einst erschreckt. Jetzt dachte ich an die Schilderungen von Idylle aus unseren Chorsätzen, an die schönen Landschaften unserer Chorwochenenden. Ich kam zu dem Schluss, dass das Landleben vielleicht sogar etwas für mich war, zumindest vorübergehend.
Etwas Positives hatte die Sache in jedem Falle: Ich war nun gezwungen, bei meinen Eltern auszuziehen. Während der Abiturprüfungen war ich von ihnen geschont worden. Seither war die Unaufgeräumtheit meines Zimmers wieder Dauerthema. Dem Impuls, meine Mutter rücklings die Treppe hinunterzubefördern, hatte ich schon manches Mal nur noch schwer widerstehen können. Es war an der Zeit, dass ich wegkam. Ich kannte mich jedoch gut genug, um zu wissen: Ohne äußeren Anlass würde ich mich dazu nicht motivieren können. Zu versuchten Selbstrauswürfen hatte mich das Killerspiel Tiberiumkonflikt ja schon als Kind gelehrt: «Das gibt ernsthafte Probleme mit dem Selbstwertgefühl, weißte –»
Eines aber war nicht zu leugnen: Der Gedanke, meinen Chor, meine Sangesbrüder zu verlieren, war kein schöner. Nie wieder Chorwochenende, nie wieder Chorreise, nie wieder gemeinsam singen. Jedenfalls nicht mit den Leuten, mit denen ich es all die Jahre getan hatte. Leute, mit denen ich gemeinsam groß geworden war. Leute, mit denen ich mehr verrückte Dinge erlebt und getan hatte, als vielleicht gut für mich gewesen war.
Ich mühte mich, es positiv zu sehen. Es war ja doch so, dass die goldenen Zeiten von Prag lange vorbei waren. Der letzte wirklich große Lacher war die Schorz-Geschichte vor dem Bundestagsauftritt gewesen. Sie war inzwischen ein halbes Jahr her und wurde mangels aktuellerer Themen immer wieder hervorgekramt. So würde es wahrscheinlich weitergehen. Und das war doch eigentlich nichts, was ich wollte. Ich wollte nicht irgendwann nur noch zum Chor gehen und immer nur daran denken müssen, wie viel besser hier alles einst gewesen war. Doch genau darauf würde es hinauslaufen. Schon der Weggang Max-Fredericks war ein herber Schlag gewesen. Jüngst hatte ich erfahren, dass auch Philipp nicht mehr lange bleiben würde. Er wollte sich in der Abendschule zum Kantor ausbilden lassen und der Unterricht fiel nun einmal auf die Probenzeit des Chors. Von den mir am nächsten Stehenden würde also bald nur noch David übrig sein. Und wie lange der noch bleiben würde, wusste auch niemand.
Es war wohl wirklich die beste Zeit, um zu gehen. Noch empfand ich die Situation im Chor als weitgehend positiv. Noch genoss ich es, herzukommen. Ich hatte zudem unverschämtes Glück: Meine Übersiedlung nach Brandenburg würde am 31. August geschehen. Vom 25. bis zum 30. August sollten die Aufnahmearbeiten an unserer neuen Weihnachts-CD stattfinden. Ich würde also nicht nur an meinem eigenen Abschiedsgeschenk mitwirken dürfen. Ich würde vor allem auch meinen letzten Tag auf Hamburger Boden mit meinen Sangesbrüdern verbringen. Besser konnte es einen eigentlich doch gar nicht treffen, wenn man schon austreten musste.
Herrn Kaiser die schlechte Neuigkeit zu überbringen, fiel mir schwer. Ich wusste, wie wenig positiv der Mann auf Austrittsankündigungen reagierte. Umso überraschter war ich darüber, wie nachsichtig unser Chorleiter einmal mehr mit mir war.
«Du kommst doch bestimmt in einem Jahr zurück, oder, Lennart?», sagte er.
Ein Vertrauensvorschuss, den hier wohl die wenigsten genossen. Als Morle vor zweieinhalb Jahren ausdrücklich vorübergehend ausgetreten war, war unser Chorleiter weniger optimistisch gewesen.
Ich wünschte, dieses Vertrauens würdig zu sein, doch nein, das war ich wohl nicht. Was der Zeit in Brandenburg folgen würde, stand nämlich noch in den Sternen. Das schönste am sozialen Jahr war ja: Die Beantwortung der Frage, welchen Beruf ich eigentlich ergreifen wollte, wurde durch es vertagt. Erst in einigen Monaten würde ich mich wieder auf die Suche begeben müssen. Ihr Ausgang war ungewiss. Als Kind hatte ich Chorleiter werden wollen, doch das war lange her. Für Führungsaufgaben war ich nicht geeignet. Ich hatte zudem nicht annähernd genug geübt, um Musiker werden zu können. Blieb meine Leidenschaft für Computer. Von Programmierung und Hardware verstand ich wenig. Meine Kenntnisse beschränkten sich im Wesentlichen auf die Bedienung meiner Killerspiele und alles, was mit ihnen im Zusammenhang stand. Für ein Informatikstudium reichte das nicht aus. Meine Abiturnote würde dafür wahrscheinlich auch nicht gut genug sein. Vor allem aber qualifizierte sie mich nie und nimmer für ein Studium an meinem Wunschort. Nahmen wir einmal an, ich würde in einem Jahr unbedingt zurück nach Hamburg wollen: Würde das überhaupt einfach so möglich sein?
Herr Kaiser würde wohl für immer auf mich verzichten müssen. Ich tat aber besser daran, ihm das nicht zu sagen. Mich trotz meiner Austrittsabsichten noch seiner Gunst erfreuen zu können, war ein hohes Gut. Anderen erging es da schlechter.
«Wirst du denn das Konzert im Juli noch mitsingen, Nathanael?», fragte Herr Kaiser.
«Ich werde zum Ende des Quartals austreten. Das Quartal endet am 30. Juni. Somit werde ich beim Konzert nicht mehr Mitglied und folglich auch nicht mehr dabei sein», erwiderte Nathanael.
«Wenn du nicht mit uns nach Heikendorf kommst und auch das Konzert nicht mitsingst, dann kann ich mich nur schwer überwinden, weiter mit dir zu arbeiten, mein lieber Nathanael.»
Ein Kommentar, den ich doch etwas rüde fand. Nathanael war schließlich nicht irgendwer. Er war ein Gründungsmitglied des Chores. Ein Mann der ersten Stunde. Ich teilte Zwergo meinen Unmut über Herrn Kaisers Äußerung mit.
«Na, also weißt du», sagte der, «wenn Nathanael hier ankommt: ‹Die automatische Anmeldung zu Chorwochenenden verstößt gegen das EU-Gesetz Paragraph Sonstwas›, dann muss er sich über sowas nicht wundern.»
Es war tatsächlich seit einiger Zeit so: Jeder, der sich von Chorwochenenden nicht ausdrücklich abgemeldet hatte, galt als angemeldet. Meine Mutter hatte auch schon ihre Bemerkungen darüber gemacht. Dabei war das doch nur konsequent. Für Konzerte galt dieses Opt-Out-Prinzip schließlich schon immer. Der einzige Unterschied war, dass wir für die Teilnahme an Konzerten nichts bezahlen mussten.
Dazu, dass Pascal seit einigen Wochen nicht mehr kam, hatte Zwergo übrigens auch eine Meinung.
«Der wollte halt lieber zum Ghetto-Basketball gehen», sagte er während der Probe.
Einige der anderen lachten. Mich machte das eher stutzig. Ich kannte Pascal nicht gut. Mein Verhältnis zu ihm war bis zuletzt immer ein wenig konfliktträchtig gewesen. Eines jedoch wusste ich: Pascal mochte sich so lässig geben, wie das von einem Menschen mit schwarzafrikanischen Wurzeln eben erwartet wurde. Es gab jedoch immer wieder Momente, in denen man merkte, dass er schon ein wenig vielschichtiger war. Noch zu gut erinnerte ich mich daran, wie er mit seligem Glanz in den Augen des Notenblatt von Notre Pere betrachtet hatte. Beinahe resigniert hatte er zu Protokoll gegeben: «Das werden diese Knaben nie begreifen: etwas, das so meditativ ist.» Ich hatte Pascal zudem immer als sehr engagiert erlebt. Einmal hatte sich, von Pascal unbemerkt, die Schraube aus seiner Mappe herausgelöst. Das wäre nicht weiter tragisch gewesen, wäre das in einem Areal von überschaubarer Größe geschehen und nicht in der St-Jacobi-Kirche. Pascal hatte sich davon nicht schrecken lassen. Unter jeder Kirchenbank hatte er nachgesehen und die Schraube schließlich gefunden. Wer so etwas tat, verließ den Chor bestimmt nicht aus einem nichtigen Grund. Irgendetwas war passiert. Ich würde jedoch wohl nie erfahren, was es war.
Der Weggang von Nathanael und Pascal war natürlich ein weiteres Zeichen: Schon bald könnte das hier nicht mehr mein Chor sein. Man musste sich ja nur einmal umsehen. Von den einstigen Neuen waren nur noch Imanuel und David übrig. Alle anderen Jungmänner stammten bereits aus der ersten oder zweiten Generation danach. Nicht mehr lange und es würden Sänger in der Männerreihe sitzen, welche die Siebenkittel-Zeiten nur aus Erzählungen kannten. Sie würden früher oder später gar die Mehrheit bilden. Und dann würde ein beträchtlicher Teil des gemeinsamen Erfahrungsschatzes fehlen. Dann würde ich öfter Erlebnisse haben wie jenes in der letzten Probe.
«Ey, jemand hat gefurzt», hatte ein Knabe von acht Jahren gesagt.
«Wer es zuerst gerochen, dem ist es aus dem Arsch gekrochen», hatte ich erwidert. Zu meinen Knabenzeiten war das ein Totschlagargument gewesen. Die heutigen Kinder konnten darüber jedoch nur müde lächeln.
«Wer diesen Spruch verwendet, der hat den Duft gespendet», sagte der Knabe.
Schachmatt.