Picardische Terz
Perlen von Holstein Folge 199
Juni 2008
Als ich heute in der Schule ankam, war mein erstes Ziel die Toilette. Sie würde mir heute, wie auch in den nächsten Tagen, als Umkleidekabine dienen. Das entsprach nicht der Vereinbarung. Eigentlich sollten wir bereits den Weg zur Schule in Verkleidung antreten. Im Hinblick auf meine Fahrstrecke war mir dies jedoch erlassen worden. So waren es nicht die Werktätigen von Airbus, sondern einige Fünftklässler, die meinen Schlafanzug als erstes bewundern durften. Die Reaktionen waren durchweg positiv.
Als ich auf den Schulhof trat, johlten einige Mädchen aus unserer Stufe mir zu.
«Hahaha, was ist das denn für ein cooler Schlafanzug? Komm, lass dich fotografieren, Lennart», rief eine.
Ich beschloss, keinen Widerstand zu leisten. Bereitwillig nahm ich meinen Rucksack ab und stellte mich auf. Meine Mitschülerin war im Begriff, den Auslöser zu betätigen, hielt jedoch inne, als hinter mir ein leises Jauchzen erklang. Ich spürte, wie jemand mir den Arm um den Rücken legte. Es war jene Mitschülerin, die vor inzwischen acht Jahren mit David und mir gemeinsam in der U-Bahn gesessen hatte. Ihr seinerzeit vernichtendes Urteil hatte sie mittlerweile revidiert. Auf der Abschlussfahrt hatte sie mich ohne Grund umarmt. Als ich sie einmal damit aufgezogen hatte, dass sie im Schulchor Alt sang, hatte ich dafür sanfte Hiebe von ihr bekommen. Ansonsten hatten wir nicht viel miteinander zu tun. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, ihr ebenso den Arm um den Rücken zu legen. Unter lautem Gejohle ließen wir uns ablichten.
Mein Schlafanzug kam unfassbar gut an. Dabei war er stinkgewöhnlich: Dunkelblau und kariert. Kein Vergleich zu dem Strampler mit Poklappe, den meine Mitschülerin trug. Überhaupt trugen doch alle aus unserem Jahrgang heute Schlafanzüge. So war es vereinbart gewesen. Meine Mitschüler konnten es jedoch noch immer nicht fassen. «Ich hätte echt nicht gedacht, dass du bei sowas mitmachst, Lennart», war ein Satz, den ich heute mehrfach hörte. Ein schlagender Beweis dafür, wie wenig diese Menschen mich eigentlich kannten. Beim Knabenchor hätte ich solches Erstaunen wohl nur geerntet, wenn ich nicht mitgemacht hätte. Und zwar auch dann, wenn alle anderen ebenso nicht mitgemacht hätten. Dort wusste man, dass es wenig gab, das mir zu verrückt war. Dort gab man mir aber auch Gelegenheit, dies zu zeigen.
Die letzten Monate meiner Schullaufbahn waren durchaus schön gewesen. Durch meinen langen Schulweg hatte ich nicht mehr zwischendurch nach Hause fahren können. Die immer zahlreicheren Freistunden hatte ich mit einigen Mitschülerinnen im Aufenthaltsraum verbracht. Zwei von ihnen waren jüngst mit mir losgezogen, um mich mit einer etwas gesellschaftsfähigeren Garderobe auszustatten. Ein geglücktes Unternehmen, wie viele fanden.
Auch darüber hinaus hatte man sich auf die Fahne geschrieben, mich zu integrieren. Zu allen nicht privaten Feiern hatte man mich einbestellt. Das waren die Abifeier-Finanzierungsparty, die Vorabi-Party, die Schriftliches-Abi-Party, die Mündliches-Abi-Party und so weiter. Dort hatte man sich dann ausdrücklich über mein Erscheinen gefreut. Den obligatorischen Umarmungen war jedoch selten viel gefolgt. Die meiste Zeit hatte am Rand herumgestanden und mich gefragt, ob mir damit nun wirklich besser gedient war als mit meinen Killerspielen.
Und so versöhnlich das Ende meiner Schulzeit auch sein mochte: Meinen Wegzug aus Hamburg verstand ich auch als eine Loslösung von Finkenwerder. Ich wollte weg von einer Gesellschaft, die den regelmäßigen Vollrausch als das höchste Glück empfand. Weg von Menschen, die mich nicht kannten und nicht kennen wollten, so sehr sie auch das Gegenteil beteuerten. Weg aus einer Umgebung, die einen wie mich integrieren musste. Integrieren hieß schließlich nichts weiter, als jemanden dazugehören zu lassen, der von sich aus nicht dazugehören konnte. Es war der kleine Bruder von Ausgrenzung. Nicht ohne Grund kam der Begriff im aktiven Wortschatz meines Knabenchors überhaupt nicht vor. In der Schule hingegen machte eine keinen Hehl daraus, dass sie ihren Umgang mit mir als Beleg für ihre unglaubliche soziale Kompetenz empfand.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Bei seinem ersten New-York-Aufenthalt lernte Paul Hindemith sogleich die Konzerte von Duke Ellington kennen und lieben. Weniger begeistern konnte er sich für die daran anschließenden Partys. Grund waren auch für ihn die Leute, denen er dort ausgesetzt war. Über mangelndes Interesse an seiner Person konnte er sich indes nicht beklagen: «Und dann kam die Reception, bei der ich wie eine Fettgriebe in der Blutwurst von allen guten Geistern verlassen war und dem sinnlosen Geschwätz und Gefrage von Hunderten von Bratschern, Komponisten, Autogrammsammlern und meistenteils zu alten und zu fetten Weibern ausgesetzt war. Es war ebenso heiß wie schauderhaft.»
Streng genommen war die Schule gar nicht überstanden. Noch stand uns allen die mündliche Abiturprüfung bevor. An und für sich brauchte ich mir deswegen aber keine Sorgen zu machen. Ich hatte das Abitur bestanden, meine bisherigen Leistungen reichten dafür bereits aus. Jetzt ging es eigentlich nur noch um die Frage nach der Abschlussnote. Und genau das war der springende Punkt.
Was die Mathe-Prüfung anging, hatte mein Nachhilfelehrer recht behalten. Ich hatte eine Zwei erhalten, genauer zehn Punkte, also eine Zwei minus. Kein allzu nachhaltiger Erfolg: Die nächste Klausur hatte von einem völlig anderen Thema gehandelt und ich war auf einen Punkt abgerutscht. Den meisten anderen war es ähnlich ergangen. Unser Lehrer hatte sich einsichtig gezeigt: Er hatte uns für sämtliche Aufgaben die Lösungswege gegeben und uns die gleiche Klausur noch einmal schreiben lassen – mit anderen Platzhaltern. Diesmal hatte ich 13 Punkte erhalten. Den meisten anderen war es ähnlich ergangen. So waren wir schließlich doch auf einen Schnitt gekommen, der den Vorstellungen von Schulleitung und -behörde entsprach.
Im Mathe-Abi hatte ich zehn Punkte erreicht. Das war gut. Im Geschichts-Abi hatte ich aber auch zehn Punkte erreicht. Das war schlecht. Geschichte war mein Steckenpferd. In Geschichte war ich sonst wesentlich besser. Deshalb wollte ich im mündlichen Abitur jetzt noch einmal eine wirklich gute Note erhalten. Deswegen ruhten alle meine Hoffnungen auf Philosophie. Die Voraussetzungen dafür waren eigentlich günstig: Durch die regelmäßigen philosophischen Diskurse mit David wusste ich, worauf es ankam. Dennoch investierte ich in diese Prüfung mehr als in alle vorherigen zusammen. Tagelang saß ich auf dem Bett und studierte Heraklit, Hobbes und Hegel. Wurde ich zwischendurch einmal von Selbstzweifeln zerfressen, hört ich Die Philosoffen von den Wise Guys: «Der Mann Aristoteles war blöd, doch ich erzähl es: Er spielte Philosoph und fragte wie Klein Doof: ‹Warum ist etwas da, das da vorher noch nicht war? Hmm – das hat bestimmt ’nen Grund!› Vielen Dank für diesen Fund.»
Der Tag der Prüfung war da. Meine Nervosität hatte einen bisher nicht gekannten Höhepunkt erreicht. Als ich dann aber vor meinen drei Prüfern saß, fiel mir die Sache dann doch erstaunlich leicht. Ich hielt mich einfach an die Lehren Davids und nutzte Alltagsgegenstände, um philosophische Sichtweisen zu erläutern.
«Was würdest du denn persönlich sagen, Lennart? Werden Erkenntnisse eher a priori oder a posteriori gewonnen.»
«Also ich würde das wirklich so sehen, wie dieser eine Philosoph, der gesagt hat, dass Erkenntnisse nur a posteriori gewonnen werden können, weil man Dingen gar nicht ansieht, wie sie sich unter bestimmten Einflüssen verhalten werden. Wenn ich jetzt zum Beispiel diesen Stift hier nehme und loslasse, fällt er runter. Ich weiß jetzt natürlich, dass das passieren wird, weil ich weiß, dass Dinge runterfallen, wenn sie frei in der Luft schweben. Das weiß ich aber nur, weil ich es irgendwann einmal beobachtet habe. An sich ist ja nichts an dem Stift, das darauf hindeutet, dass er runterfällt.»
Auf die Mitteilung meiner Note musste ich nicht lange warten. Bereits nach einer halben Minute wurde ich wieder in den Prüfungsraum bestellt.
«Danke für dieses Gespräch, Lennart. 15 Punkte!»
Beschwingt trat ich den Weg zur Chorprobe an. Dort wurde ich von Knaben und Männern für mein tolles Ergebnis ausgiebig beklatscht. Dann probten wir das Geistliche Lied von Brahms. Das kam mir sehr gelegen. Ich mochte, was unser Hamburger Komponist dort geschrieben hatte.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es ist prinzipiell unschicklich, sich als Hamburger für Brahms zu rühmen. Schließlich ist es kein Geheimnis, dass unsere schöne Hansestadt den Mann in jungen Jahren nicht seinen Fähigkeiten entsprechend behandelt hat. Eher belustigend ist hingegen, dass die Stadt Halle den Titel Händelstadt für sich beansprucht. Der Mann wird nicht ohne Grund von vielen Engländern als einer der ihren betrachtet. Bei Haydn denkt man schließlich auch zuerst an Wien und zuletzt an sein Geburtskaff Rohrau. Die eigentliche Händelstadt heißt London, das einen solchen Titel jedoch nicht nötig hat. Geradezu kriminell wird es aber erst, wenn Salzburg sich mit Mozart aufspielt. Über seinen Herkunftsort schrieb der Meister einmal: «Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, dass ich Salzburg und seine Einwohner – ich rede von geborenen Salzburgern – nicht leiden kann. Mir ist ihre Sprache, ihre Lebensart ganz unerträglich.»
Das Geistliche Lied begann mit einem Orgelvorspiel. In den Proben stand uns hierfür natürlich nur ein Klavier zur Verfügung. Das machte jedoch gar nichts. Herr Kaiser fing den Kitsch, der diesen Tönen innewohnte, traumhaft gut ein. Philipps schwärmerisches Grinsen dazu tat sein Übriges. Schon bevor wir überhaupt lossangen, war ich in moderater Feierlaune. Sie steigerte sich durch den sonderbar altmodischen Text. ‹Was Gott beschleußt, das ist das Beste›, sangen wir an einer Stelle. Niemand Geringeres als Volker witzelte darüber: «Ja, Gott macht seine Schleusen zu.» Er erntete großes Gelächter.
Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Der Wandel von Sprache kann schon einmal zu Missverständnissen führen. Wie Carl Philipp Emanuel Bach etwa berichtet, habe sein Vater ‹von Natur aus› ein ‹etwas blödes Gesicht› gehabt. Das klingt in unseren Ohren gemein, meint jedoch einfach nur, dass der Johann Sebastian schlecht sehen konnte. Gesicht hieß früher Sehvermögen, blöd so viel wie schwach.
Was mich das Geistliche Lied aber so sehr lieben ließ, war dessen Botschaft: Alles wird gut. Oder wie es der Textdichter ausdrückte: ‹Was willst du heute sorgen auf morgen? Der Eine steht allem für, der gibt auch dir das Deine.› Es passte damit in eine Zeit, in der sich alles zum Positiven gewandelt hatte oder zumindest auf dem Weg dorthin war. Die Schulzeit und ihre Zumutungen waren vorbei. Was mich erwartete, konnte nur besser sein.