Vorbereitung eines Chortermins
Perlen von Holstein Folge 200
Juli 2008
Meine letzte reguläre Probe sollte ich nicht am vertrauten Ort erleben dürfen. Herr Kaiser bestellte uns zu St. Gertrud, einem mir bis dato unbekannten Gotteshaus in Hamburg-Uhlenhorst. Ich war mir ziemlich sicher, es nicht zu kennen. Mochten Kirchennamen auch zu den Dingen gehören, die ich mir nicht merkte, einen solch ulkigen hätte ich sicher behalten. Gertrud war für mich der Name einer liebenswürdigen, aber eben auch etwas einfältigen alten Dame. Nichts, woran man denken soll, wenn man von einem Kirchenbau spricht. Ein Kirchenbau soll dem Menschen Ehrfurcht einflößen. Und da der erste Eindruck oft der entscheidende ist, wirkt ein unglücklich gewählter Name schnell kontraproduktiv. Wem bitte fließt der Gedanke an eine liebenswürdige alte Dame Ehrfurcht ein? Man fragte sich, ob es irgendwo in Deutschland auch ein St. Hilde, St. Emma oder St. Inge gab. Für einen Chor, der viele Sternstunden in Altersheimen gefeiert hatte, wären das vielleicht nicht einmal die schlechtesten Auftrittsorte gewesen.
St. Gertrud würde aber nicht nur der Ort meiner letzten regulären Probe sein. Es würde meine letzte Wirkungsstätte als Mitglied des Neuen Knabenchor Hamburg sein. Herr Kaiser hatte die Kirche auserkoren, Aufnahmeort unserer CD zu sein.
Ursprünglich hatte er an St. Johannis-Harvestehude gedacht, dann aber gehadert: St. Johannis bot dem Zuhörer eine erstklassige Akustik. Für den Musizierenden war sie weniger optimal. Man hörte die anderen Stimmen nicht. Das war bei einem Konzert vor ein paar Hundert Familienangehörigen zu verschmerzen, nicht jedoch bei einer CD, von der sich unser Chorleiter bundesweite Bekanntheit versprach. Er hatte deshalb weder Kosten noch Mühen gescheut. Gemeinsam mit Zwergo war er auf Kirchentour gegangen. Rund fünfzig Gotteshäuser hatten die beiden aufgesucht. St. Gertrud hatte den Anforderungen offenbar am ehesten genügt.
Natürlich hätte ich meinen Ausstand lieber in St. Jacobi, notfalls auch in St. Johannis gefeiert. Mir war jedoch klar, dass auf diesen Einzelwunsch keiner Rücksicht nehmen konnte. Es war nur für mich der letzte Chortermin. Für alle anderen war es einer, dem noch viele Hundert folgen würden. Der Neue Knabenchor Hamburg würde auch ohne mich auftreten, auch ohne mich verreisen, auch ohne mich Spaß haben. Der einzige Unterschied war, dass ich es nicht mehr mitbekommen würde.
St. Gertrud wäre übrigens auch für Philipp die letzte Wirkungsstätte gewesen. Er hatte ebenso vorgehabt, die CD-Aufnahme noch mitzumachen, bevor er austrat. Herr Kaiser hatte dies jedoch untersagt. Grund war, dass Philipp nicht mit zur Probenwoche fahren konnte, die direkt davor stattfand. Es war somit nicht sichergestellt, dass er Es ist ein Ros entsprungen auch wirklich bis auf den letzten Ton beherrschte. Ein Risiko, das unser Chorleiter nicht eingehen wollte. Seine letzte reguläre Probe hatte Philipp übrigens in der vergangenen Woche gehabt. Heute war er überraschend verhindert. Er war somit bereits aus dem Chor ausgeschieden. Ein unverdient unspektakuläres Ende, wie ich fand. Philipp hatte Klang und Atmosphäre schließlich über Jahre entscheidend mitgeprägt.
Als ich St. Gertrud sah, wunderte ich mich doch ein wenig, die Kirche nicht zu kennen. Sie war überraschend groß, größer wohl als St. Johannis. Für einen norddeutschen Rotklinkerbau waren die Außenwände zudem reichlich verziert. Wohin man auch blickte, ragte irgendetwas hervor oder war von besonderer Form. Das Sahnehäubchen war aber die Top-Lage: St. Gertrud lag zwischen zwei U-Bahnhöfen und doch mitten im Grünen. Zum Wasser war es ebenso nicht weit. Die abscheulichen Mundsburg Tower im Hintergrund nahm man so fast überhaupt nicht war. Einfacher traumhaft.
Weniger traumhaft fand ich die Akustik. Der Hall war enorm. War es wirklich das, was Herr Kaiser wünschte? Ich empfand sowas auf CDs ja als eher störend. Unser Chorleiter aber offenbar nicht. Sonst hätte er sich wohl kaum nach reiflichem Bedenken für genau diese Kirche entschieden.
Seine Suche nach dem perfekten Klang war indes noch gar nicht richtig abgeschlossen. Während wir vorne im Altarraum sangen, lief er in der Kirche umher. Er wollte wissen, wie die Mikrofone uns wahrnahmen, die hier schon bald überall stehen würden.
«Also, irgendwie ist das ein bisschen merkwürdig», sagte er, «Wenn ich hier hinten stehe, klingt ihr zwar richtig, aber der Nachhall ist zu tief.»
Zwergo, seines Zeichens Ingenieur, erklärte: «Das liegt daran, dass durch den Widerstand der Atome in der Luft die Amplitude der von uns erzeugten Schwingungen nach und nach abfällt.»
«Okay», sagte Herr Kaiser. Er schien tatsächlich zu verstehen, was Zwergo meinte.
David war von derlei Erörterungen hingegen wenig begeistert.
«Boah ey, ‹Amplitude›. Wir sind hier Elite», spottete er.
Ich empfand das als eine der ganz wenigen Fehleinschätzungen, die sich mein alter Freund jemals geleistet hatte. Zwergo und Herr Kaiser hatten ja nun nicht in einer Konversation beeindrucken wollen. Sie besprachen hier einfach Dinge, bei denen ein wenig Fachvokabular unvermeidlich war. Dennoch pflichtete ich natürlich bei.
«Fehlen nur noch solche Cognac-Gläser», sagte ich.
«Solche Zigarren», erwiderte David. Dabei imitierte er einen emsig schmauchenden Menschen.
Guido und ich lachten.
In der Männerprobe präsentierte Zwergo sich wieder von seiner weniger formalen Seite. Herr Kaiser bestellte uns auf die Empore. Er wollte prüfen der, ob der gregorianische Choral Salve Regina von hier oben aus vielleicht besser klang. Für Zwergo eine willkommene Gelegenheit, uns von einer Erkenntnis zu berichten.
«Ist euch eigentlich schon mal aufgefallen, dass Salve Regina voll die geile Jazz-Nummer ist, wenn man den Rhythmus entsprechend singt?»
Er machte es vor.
«Haha, geil», sagte Georg, «der Bebop.»
Er erzeugte mit dem Mund den dazugehörigen Beat. Zwergo machte mit. Guido, David, Imanuel und ich swingten dazu: «Sa-a-a-alve, Re-egi-i-i-i-ina-a-a-a, Ma-ater miserico-ordi-i-i-iae»
Wie würde ich solche Situationen doch vermissen.