Digitale Verzweisamung
Perlen von Holstein Folge 201
August 2008
Meine letzte Probenwoche würde wieder einmal nur fünf Tage dauern. Im Hinblick auf die bevorstehenden Strapazen bei der CD-Aufnahme wollte Herr Kaiser uns und sich selbst nicht mehr zumuten. Ebenso wollte er wohl vermeiden, dass beides nahtlos ineinander überging. Ansonsten hätten die Eltern womöglich revoltiert. Ich wunderte mich ohnehin darüber, mit welchem Gleichmut sie die Inanspruchnahme ihrer Kinder hinzunehmen schienen. Es stand zu befürchten, dass die Verlockung bundesweiter Bekanntheit ein wenig an ihrem sonst so hochgehaltenen Fürsorgeauftrag rüttelte.
Den fünf Tagen auf meiner letzten Probenwoche ging ein ebenso langer Aufenthalt bei meinem alten Freund David voraus. Jedoch eher ungeplanterweise. David hatte mich angerufen und gefragt, ob ich Lust hätte, den Abend bei ihm zu verbringen. Neben Essen vom Pizzaservice könnte er mir alle Annehmlichkeiten bieten, die ein komplett leeres Reihenhaus zu bieten hatte. Seine Eltern waren für mehrere Wochen verreist.
Ich hatte sofort zugesagt. Zuhause erwartete mich nichts. Das Killerspiel Empires: Die Neuzeit hatte ich gestern zu Ende gespielt. Die meiste Zeit über hatte ich Spaß an dessen Einfällen gehabt – es stammte schließlich von jenen Entwicklern, denen wir auch den staatsbeherrschenden Riesenkampfroboter in Empire Earth und die schwertschwingende Bikini-Kleopatra in Rise and Fall zu verdanken hatten. Zuletzt aber hatte ich erfahren, was es hieß, kriegsmüde zu sein. Die letzte Schlacht war nach meiner Auffassung längst geschlagen gewesen, doch dem Spiel waren immer weitere Aufgaben für mich eingefallen. Was mit einer opulent inszenierten Seelandung begonnen hatte, war in einem entwürdigenden Fangspiel in einer Art Irrgarten geendet. Ich hatte genug.
So war ich also zu David gefahren. Konkrete Vorstellungen, wie lange ich mich dort aufhalten wollte, hatte ich keine gehabt. Das war an sich auch gar nicht nötig gewesen: Der Pizzaservice ließ uns genauso wenig im Stich wie Davids Geldreserven. Nach drei mehr oder weniger durchgemachten Nächten war ich dennoch kurz nach Hause gefahren, um meine Zahnbürste und Wechselklamotten zu holen.
Womit wir die viele Zeit verbrachten, versteht sich von selbst. Davids GameCube stand schon bereit, als ich eintraf. Mein alter Freund begehrte, dass ich mich einmal an seiner Leib-und-Seele-Killerspielreihe The Legend of Zelda probierte. Deren fünftjüngster Ableger The Wind Waker stand zwar nicht in dem besten Ruf, war dem Benehmen nach aber wenigstens einsteigerfreundlich.
Die folgenden Stunden und Tage war David genießender Zeuge meines Scheiterns gewesen. Ich hatte zeitlebens nie ein anderes Spielegerät als meinen Computer besessen. Mit der Bedienung von GameCubes, PlayStations und Xboxen war ich wenig bis gar nicht vertraut.
David amüsierte sich jedoch weniger über meine Inkompetenz. Ihn erfreute eher meine Art, sie zur Kenntnis zu nehmen. Schuld an meinem Versagen war natürlich nicht ich. Schuld war unter anderem das weibliche Wesen, das mich ein Stück meines Weges begleitete. Völlig zu Recht beschimpfte ich es als Olga, Trulla, Thusnelda, Trine, Tante und was mir sonst noch einfiel. Als ich die entsprechende Passage dann auch noch wiederholen musste, stöhnte ich beim Betreten jedes einzelnen Raumes auf: «Oh, bitte nicht wieder dieser Scheiß.»
Lieferte das Spiel selbst einmal keinen Anlass, mich zu ärgern, half David nach. Genussvoll sang er jenen Teil des Soundtracks, der als Kampfmittel einen Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung dargestellt hätte.
Sein Gesäusel regte uns zu der Frage an, wie es wohl wäre, wenn die Realität ein wenig so wäre wie The Wind Waker. Wie wäre es, wenn den ganzen Tag ein Orchester hinter einem herliefe, das jede begangene Handlung musikalisch kommentierte?
Spielte ich nicht The Wind Waker, duellierten David und ich uns in Super Smash Bros. Melee. Allerdings nie länger als drei Runden. Spätestens dann gerieten wir in einen handfesten Streit über den gewünschten Spielmodus. Weil Super Smash Bros. Melee allen Spielern gleich viel Macht über die Einstellungen gibt, verliefen unsere Auseinandersetzungen stets ergebnislos. Demokratie funktioniert eben nicht. Sie macht mitunter aber mehr Spaß als das eigentliche Spiel. Unter wüstem Gelächter malträtierten wir die Knöpfe unserer Controller.
Ermattet von so viel aktivem Medienkonsum widmeten wir uns dem passiven. David schaltete seinen Rechner ein und rief YouTube auf. Es standen die Vor- und Nachspänne alter Zeichentrickserien auf dem Programm. Von Pokémon, Dragonball, Monster Rancher und Nadia – Die Macht des Zaubersteins.
Die beiden Intros von Digimon sahen wir ebenso. Weil ich die Serie früher gehasst hatte, konnte ich die beiden Lieder natürlich in- und auswendig. David sah sich dennoch veranlasst, meine Ressentiments abzubauen. Tatsächlich musste ich rasch erkennen, dass Digimon mit Pokémon kaum mehr als die Namensendung gemein hatte. Pokémon stellte von Anfang an klar: Was man hier sah, war ein reines Fantasieprodukt ohne Bezug zur Realität des Zuschauers. Digimon machte es hingegen wie Harry Potter oder auch Die Chroniken von Narnia: Die Protagonisten lebten zunächst einmal in der gleichen Welt wie wir. Eines schönen Tages erfuhren sie dann aber, dass sie auserwählt waren, eine viel tollere Parallelwelt betreten zu dürfen.
So erklärte sich wohl auch folgende Szene: Held Davis verliert seinen ersten Kampf. Er muss sich daraufhin von seinem Digimon belehren lassen: «Du hättest nur sagen müssen: ‹Digi-Armor-Ei des Mutes, erstrahle!›» David und ich fassten uns in demonstrativer Fassungslosigkeit an die Stirn. «Mensch, sowas weiß man doch», sagten wir im Chor. Anschließend lachten uns tot. Dabei wussten wir wohl beide: Früher hätten wir uns diesen Satz gut gemerkt. Wer wusste schon, ob man ihn nicht doch noch einmal brauchen würde.
Die Probenwoche war im Großen und Ganzen eine Fortsetzung meiner Tage bei David. Kaum, dass wir unser Acht-Mann-Zimmer im Schloss Noer betreten hatten, inspizierten wir die Wände. Das Ergebnis war erschütternd.
«Ey, hier gibt es jetzt aber nicht ernsthaft nur zwei Steckdosen, oder?», sagte David.
«Nein, in so einem großen Raum muss des definitiv mehr geben», erwiderte ich. «Lass mal hinter den Betten und Schränken nachsehen.»
Tatsächlich fand sich hinter einem der Schränke eine weitere Doppelsteckdose. Frans und David schafften das lästige Möbelstück sogleich zur Seite.
«So», sagte David. Dann holte er seinen iPod Touch und eine Lautsprecheranlage hervor. Sie umfasste neben Stereoboxen auch einen Subwoofer. Wir wollten unseren Kindheitserinnerungen schließlich in höchster Klangqualität frönen.
Das Intro von Pokémon erklang. Frans, Guido, Leonard, Georg und Imanuel reagierten recht unterschiedlich darauf, aber immerhin: Sie reagierten. Joël tat das nicht. Er saß im Maßanzug auf seinem Bett und las. Las, während wir Radau machten. Um Punkt 21 Uhr zog er dann Sakko und Krawatte aus und legte sich hin. Fünf Minuten später schlief er wie ein Stein. Bei eingeschaltetem Licht und eingeschaltetem Subwoofer. David nämlich hatte sich einen ganz besonderen Gag einfallen lassen: Er zeigte auf dem 89mm-Display seines iPod Touch Kinofilme: Heute Pans Labyrinth. Als auf dem Winzbildschirm Pferde herangaloppierten, ließ der Subwoofer die Erde erbeben. Ein Lehrstück in Sachen inszenierte Situationskomik.
Als der Film zu Ende war, wurde es allmählich Zeit, ins Bett zu gehen. Das befand zumindest der größte Teil der Zimmerbewohner. David und ich hatten andere Pläne. Ich wollte auf meinem iPod das Killerspiel Sonic the Hedgehog spielen, er noch ein wenig seiner gegenwärtigen Leidenschaft nachgehen. Diese hieß Warhammer. Das war insofern bemerkenswert, als sie monatelang StarCraft geheißen hatte. StarCraft war von Warhammer abgelöst worden, wie seinerzeit Warhammer von StarCraft. Davids Leidenschaften waren intensiv, aber kurzlebig; erlöschend, aber wiederaufflammbar. StarCraft musste also nicht traurig sein. In einigen Monaten würde es Warhammer von neuem ablösen.
Warhammer war wohlgemerkt kein Killer-, sondern ein sogenanntes Tabletop-Spiel. Ein Spiel mit bemalbaren Zinnfiguren und hyperkomplizierten Regelwerk also. Ich konnte nicht viel dazu sagen. Ich kannte nur Warhammer 40.000 und auch das eher flüchtig. Ich wusste, dass da Menschen, die einen Menschen anbeteten, der seit 10.000 Jahren im Wachkoma lag, noch die normalsten waren. Und irgendwie reizte mich das nicht. Von den saftigen Figurenpreisen einmal abgesehen. David jedoch war begeistert. So sehr, dass er sich Fachliteratur angeschafft hatte. Diese wollte er nun lesen. Das jedoch erforderte, dass das Deckenlicht eingeschaltet war. Leselampen gab es nicht. Da, wie gesagt, außer ihm und mir alle schlafen wollten, war das Deckenlicht mittlerweile ausgeschaltet. Ein Mehrheitsbeschluss, den David nicht hinnehmen konnte.
Ich hätte mich nun auf seine Seite stellen können, sah jedoch keinen Anlass hierfür. Killerspiele konnte man auch im Dunkeln spielen. Ich hielt zudem nicht viel von Begleitliteratur zu Spielen. Noch zu gut erinnerte ich mich daran, wie wir uns in der siebten Klasse über das Lösungsbuch zu Tomb Raider III totgelacht hatten. Verantwortlich dafür war vor allem die Wortwahl für notwendige Tötungshandlungen gewesen. Die Aufforderung ‹Entledigen Sie sich des Kannibalen, der Ihnen Übles will›, war rasch zum Klassiker avanciert.
Ich stand also nicht auf Davids Seite. Dennoch war ich derjenige, der von ihm angebettelt wurde, das Licht wieder einzuschalten. Eine geschlagene Dreiviertelstunde lang. Mein alter Freund sagte dabei eigentlich zur zwei verschiedene Dinge: «Lennart?» und «Bitte, Lennart!» Seiner Stimmlage zufolge sagte er das wohl mit großen Hundeaugen. Sie halfen ihm in dieser Situation jedoch wenig. Zum einen, weil ich sie in der Finsternis nicht sehen konnte, zum anderen, weil ich ganz andere Sorgen hatte. Das schnelle Tempo und die präzise Steuerung von Sonic the Hedgehog waren weltberühmt. Dieser Ruhm verblaste jedoch, wenn man das Spiel auf einem iPod spielte.
«Verdammt, jetzt habe ich schon wieder alle Ringe verloren. Ja, leck mich doch am Arsch», brüllte ich. Und: «Verdammt, jetzt war ich so kurz davor, diesen Scheiß zu schaffen.» Und: «Jetzt kriecht mir hier so ein blödes Insekt auf der Brille rum.»
David bettelte unbeeindruckt weiter: «Lennart –? Bitte, Lennart – Bitte, Lennart – Bitte!»
«Nein!», rief ich.
Frans kicherte. David hatte Mühe, nicht mit einzustimmen. Ich ebenso. Irgendwann aber langte es mir. Ich war nicht länger gewillt, mich traktieren zu lassen. Ich beendete absichtsvoll mein virtuelles Leben und schaltete das Spiel aus. Dann begab ich zum Lichtschalter. Mit voller Wucht schlug ich dagegen. David jubelte.
«Ja, es hat geklappt!»