Zeichen der Zeit

Perlen von Holstein Folge 202

Unsere Tage in Schloss Noer hatten der übliche Probenmarathon sein sollen. Daraus wurde jedoch nichts. Grund war, dass sich auch im Leben von Ulrich Kaiser nicht alles planen ließ. Zwei Tage vor Beginn der Probenwoche hatte seine Frau eine Frühgeburt gehabt. Unser Chorleiter hatte daraufhin fast sämtliche Planungen über den Haufen geworfen. Probe würde nur am späten Vormittag und am frühen Nachmittag sein. Die restliche Zeit wollte er bei seiner Frau verbringen. Das bedeutete, dass er zwischen Hamburg und Noer hin- und herpendeln musste. Wir würden ihn mit anderen Worten kaum je zu sehen kriegen. Die CD-Aufnahmen würden indes wie geplant stattfinden. Bestehende Verträge waren nun einmal einzuhalten.

Eine Probenfahrt, die fast durchweg aus Freizeit bestand: Das war in der Geschichte unseres Chores einmalig. Dementsprechend wusste niemand so recht, wie mit der Situation umzugehen war. Noer lag abgeschieden und hatte außer seinem Schloss wenig zu bieten. Eben deshalb war es ja als Probenstätte ausgewählt worden. Das Alternativprogramm bestand aus einem halbherzig organisierten Spaziergang zum nahegelegenen Strand. In der übrigen Zeit war es uns gestattet, in unseren Zimmern oder auf dem Schlossgelände herumzulungern. Das Schloss Noer war wohlgemerkt kein monumentaler Prachtbau mit Türmen, Säulen und Blattgold. Es war eher eine Art Gutshaus. Breit und nur mäßig repräsentativ. Es verfügte jedoch über erstaunlich viele Räume. Für eine Nutzung als Jugendherberge war es geradezu prädestiniert.

Wir vertrieben uns die Zeit in unserem Zimmer. Neben uns Bewohnern war auch Akira fast ununterbrochen hier anzutreffen. Er war noch immer im Stimmbruch, fühlte sich aber offensichtlich bereits als Mann. Wir genehmigten dies. Genau genommen nahmen wir es kommentarlos zur Kenntnis. Anderthalb Jahre nach dem Ende von Max-Fredericks Grande Terreur war plötzlich alles möglich. Sogar Knaben waren bei uns zu Gast. Als Gastgeschenk brachten sie Ausgaben der Micky Maus mit. David blätterte ein wenig darin herum. Für die Comics konnte er sich nur wenig erwärmen. Ebenso für die Infos zu irgendeinem brandaktuellen Kinderfilm. Die Witze-Seite hingegen schaffte es, sein Interesse zu wecken.

«Gott, sind die schlecht», sagte David und las vor: «Familie Hering schwimmt im Meer. Da begegnet ihnen ein U-Boot. Klein-Hering versteckt sich ängstlich hinter seiner Mutter. Die beruhigt ihn: ‹Hab keine Angst – das sind nur Menschen in Dosen.›»

Einige Sekunden herrschte betretenes Schweigen.

«Und was ist daran lustig?», fragte ich.

Niemand wusste eine Antwort. Dabei war das nach Meinung der Redaktion nicht irgendein Witz. Es war ein böser Witz. Direkt darunter befand sich ein böser, böser Witz. So böse, dass eine daneben abgebildete Comic-Figur mahnte: ‹Na, na, na!› David las uns natürlich auch diesen Witz vor.

«In einem Amt in Frankfurt fragt ein Mann: ‹Haben Sie eine Stelle für mich?› – ‹Was können Sie denn?› – ‹Nichts!›»

Wieder herrschte einige Sekunden betretenes Schweigen. Wieder fragten wir uns: Was war daran witzig? Was war daran böse? Dabei waren weder ich noch meine Sangesbrüder schwer zu erheitern. Zumindest, wenn wir beisammen waren. Doch gereichte nicht einmal Gruppendynamik dazu, Witze aus der Micky Maus lustig zu finden. Jene waren offenbar für ihren Mangel an brauchbaren Pointen bekannt.

«Ich fand ja schon als Kind die Witze aus der Micky Maus immer so schlecht», sagte David.

«Ja», erwiderte Georg, «Es gab doch mal so einen Knaben, der war ganz stolz darauf, dass irgendein Witz von ihm in der Micky Maus abgedruckt worden ist. Der war auch so erbärmlich, Alter.»

Ich konnte dazu nichts sagen. Meine große Schwester Annika hatte eine Zeit lang die Micky Maus gelesen. Mich hatte das Angebot der Zeitschrift hingegen nie angesprochen. Comics hatte ich kaum jemals lustig gefunden.

So saßen wir also da und hatten seit einer Viertelstunde kein einziges Mal gelacht. Ein bedauerns- wie änderungswürdiger Zustand, wie David zu befinden schien. Er war plötzlich wie ausgewechselt. Mit erwartungsvollem Grinsen griff er sich die Micky Maus und las den bösen, bösen Witz noch einmal vor: «‹In einem Amt in Frankfurt –›»

Weiter kam er nicht. Ein unbändiger Lachanfall ergriff fast vollständig von ihm Besitz.

«Hahaha, ‹in Frankfurt›, hahaha.»

Es war deutlich zu merken, dass sein Lachen nur gespielt war. Ich benötigte dennoch einige Sekunden, um zu begreifen, was von mir erwartet wurde. Umso geysirartiger fiel nun mein Lachanfall aus.

«Ahahaha, ‹in Frankfurt›, ahahaha. Jetzt verstehe ich das erst», sagte ich. Ich zeigte anerkennend mit dem Finger auf David.

Der las weiter vor: «– fragt ein Mann: ‹Haben Sie eine Stelle für mich?›»

Ich wollte abermals in ohrenbetäubendes Gelächter ausbrechen, doch David hielt mich auf.

«Warte, warte», sagt er und las: «‹Was können Sie denn?› – ‹Nichts!›»

Unser nunmehr ekstatisches Gelächter brachte Wände und die Lachmuskeln unserer Sangesbrüder zum Beben. Sie lachten indes wohl mehr über unser Schauspiel als über den noch immer grauenhaft schlechten Witz. David schien sich indes wieder gefangen zu haben. Er las den nächsten vor.

«‹Familie Hering schwimmt im Meer. Da begegnet ihnen ein U-Boot.›»

«‹Ein U-Boot›, hahaha!»

«‹Klein-Hering versteckt sich ängstlich›, ‹ängstlich›, oh Gott, vor einem U-Boot. Hahaha!»

Davids Gelächter nahm nunmehr manische Züge an. Er schüttelt sich auf seinem Stuhl hin und her, als ob sein Gesäß mit einer Starkstromleitung verbunden wäre. Ich hatte ebenso Probleme, mich aufrecht zu halten. Das lag vor allem daran, dass mein Lachen definitiv nicht mehr gespielt war. Die Situation war einfach zu grotesk, um professionell bleiben zu können.

Der Grad der Ekstase war nicht mehr zu steigern. Wohl aus diesem Grunde stellte David aus heiterem Himmel sämtliches Gelächter ein. Er schleuderte die Micky Maus in die Ecke.

«Armselig. Das ist einfach nur armselig», sagte er.


Zwei Stunden später waren David und ich wieder in bester Nostalgie-Laune. Wir grölten eine Melodie aus den Killerspielen Pokémon Rote Edition und Pokémon Blaue Edition.

music snippet

Wir mussten schmerzhaft erfahren, dass unsere Begeisterung für diese Töne nicht geteilt wurde.

«Mann, ey, was für ’n Scheiß», sagte Georg.

Zur Strafe schloss ich meinen iPod an Davids Lautsprecheranlage an und ließ Für Elise erklingen. Georg hasste Für Elise.

«Oh, nee, mach das aus», flehte er.

Frans lachte schadenfroh. Er ahnte nicht, dass er als nächstes an der Reihe sein würde.

Dem Für Elise folgte Als ich bei meinen Schafen wacht, gesungen vom Windsbacher Knabenchor. Frans brauchte nur die ersten zwei Sekunden zu hören, um zu wissen: Es handelte sich nicht um irgendeinen Satz von Als ich bei meinen Schafen wacht. Es war der, bei dem er letztes Weihnachten den Solopart hatte übernehmen müssen. Eine Tortur, von der er in diesem Jahr verschont bleiben würde. Herr Kaiser hatte das Stück nicht wieder ins Programm genommen. Für Frans kein Grund, seinen Frieden damit zu schließen.

«Boah, erinner mich bloß nicht an diesen Scheiß, ey», sagte er.

David befand ebenso, dass wir für heute genug Hochkultur gehabt hatten. Er entfernte meinen iPod von seiner Lautsprecheranlage und schloss seinen iPod Touch an. Spasst von K.I.Z erklang. Ein Lied, das ich bereits kannte. Eine Gruppe von Mitschülern hatte es auf unserer Abschlussfahrt immer wieder laut gehört und noch lauter mitgesungen. Ich konnte es nicht ausstehen. Hip-Hop war mir schon als Kind zuwider gewesen. Mit Schrecken dachte ich an das Lied Schokocornflakes zurück, in dem zwei junge Burschen doch tatsächlich Backe, backe Kuchen gerappt hatten.

Der Text von Spasst war bedeutend weniger harmlos. Er bestand aus einer Aneinanderreihung von Abwertungen einer anderen Person bei gleichzeitiger Aufwertung der eigenen. Wie das im Hip-Hop eben so üblich ist. Die Gruppe von Mitschülern war begeistert von ihm gewesen. Sie hatte eben längst begriffen, was ich erst jetzt, in Gegenwart meiner Sangesbrüder, verstand: Die Prinzipien der Hip-Hop-Dichtkunst wurden hier dermaßen auf die Spitze getrieben, es konnte sich nur um eine Parodie auf sie handeln. Man musste sich schließlich einmal auf der Zunge zergehen lassen, was das für Dinge waren, die dem Gegenüber an den Kopf geworfen wurden: ‹Du trägst Cordjacken, du spielst mit Magic-Karten, du wählst 0-190 und willst heiraten!› Wer gesellschaftlich dermaßen unmöglich war, von dem war natürlich auch keine Potenz zu erwarten. Ganz anders die Sänger des Lieds: ‹K.I.Z-Crew: Keine Schwänze, sondern Baumstämme! Keine Säcke, sondern Staudämme!› Wir schwärmten noch Stunden von diesen Zeilen.


Philipps Abwesenheit machte sich in all den Tagen nur selten bemerkbar. Situationen, die seine Anmerkungen erfordert hätten, waren einfach zu rar. Die wenigen Proben liefen gut, die Zimmer waren sauber und sogar das Essen schmeckte ganz passabel. Anlass zu Kritik bot einzig das bereitgestellte Mineralwasser. Niemand geringeres als Volker witzelte: «So schön schal gestanden.» Auf den Einfall, uns Tee oder Saft anzubieten, kam niemand. Man wollte sich wohl nicht in die Nesseln setzen.

Ein Anliegen, das man besser auch beim Grillabend beherzigt hätte. Dort kam man dann nämlich leider doch noch auf den Einfall, uns ein sonderbares rotes Gebräu anzubieten. Schon eine Geruchsprobe ließ Schreckliches erahnen. Frans probierte einen winzigen Schluck. Er zuckte zusammen. Zu Philipp-Zeiten hätten wir uns jetzt wohl köstlich amüsiert, das Gesöff jedoch ganz bestimmt nicht noch einmal angerührt. Jetzt aber hatte David das Sagen. Und er befahl, sämtliche Gläser bis zum Rand zu füllen.

«Okay, Leute», sagte er, «Ich zähl’ jetzt bis drei und dann wird geext.»

Wir taten, wie uns geheißen: Auf Drei leerten wir unsere Gläser. Leonard hätte sich beinahe übergeben. Wir anderen erfreuten uns an der zusammenschweißenden Wirkung dieses gemeinsamen Geschmackserlebnisses. Was ihm folgte, war ein Leben nach den Lehren von Opa Max. Der hatte in Situationen wie dieser stets gepredigt: «Jesus sprach zu seine Jünger: Wenn du keine Gabel hast, iss mit die Finger!»