Denkmalsetzung

Perlen von Holstein Folge 203

Die Proben in Schloss Noer waren nicht zahlreich, für mich aber dennoch nervlich belastend. Das hatte nichts mit der Arbeit an den Stücken zu tun. Die genoss ich in jeder Sekunde. Viele dieser Lieder waren fester Bestandteil meines bisherigen Lebens. Die wenige Zeit, die mir noch mit ihnen blieb, musste ausgekostet werden. Es hätte mich an und für sich wohl sogar geärgert, dass wir so wenig probten. Wäre da nicht dieser Knabe in der Reihe vor mir gewesen.

Obwohl es August war, trug er einen Pullover. Einen Pullover, auf den irgendein flotter Spruch aufgestickt war. Jener Spruch enthielt ein P. Von besagtem P war nur die Außenseite festgenäht, nicht die Innenseite. Sie stand deshalb ein wenig ab. Man konnte, ja, man wollte mit dem Finger unter das P fahren. Ich jedenfalls musste mich mehrmals sehr schwer zurückhalten, es nicht mitten im Jauchzet dem Herrn zu tun. Und selbst, wenn ich mich einmal nicht zurückhalten musste, fragte ich mich: Warum zum Geier war nicht auch die Innenseite des Ps festgenäht. Bei allen anderen Buchstaben hatte man das doch auch gemacht. Dazu zählten unter anderem zwei große Rs.

Ich klagte David mein Leid.

«Ja», sagte er, «manchmal sind es die banalsten Dinge, die einen am meisten auf die Palme bringen können.»

In der Kaffeepause saß ich mit Frans und Leonard an einem Tisch. Leonard zitierte aus Rhabarber-Barbara.

«Rhabarber-Barbara merkte bald, dass sie mit ihrem Rhabarberkuchen Geld verdienen könnte. Daher eröffnete sie eine Bar: Die Rhabarber-Barbara-Bar. Natürlich gab es in der Rhabarber-Barbara-Bar bald Stammkunden. Die bekanntesten unter ihnen, drei Barbaren, kamen so oft in die Rhabarber-Barbara-Bar um von Rhabarber-Barbaras Rhabarberkuchen zu essen, dass man sie kurz die Rhabarber-Barbara-Bar-Barbaren nannte.»

Ein Text, den fehlerfrei zu sprechen eine hohe Kunst ist. ‹Und dabei Klavier spielen, das ist schwer›, hätte Opa Max wohl dazu gesagt. Leonard hatte Anerkennung verdient. Er bekam sie jedoch nicht. Frans und ich interessierten uns viel mehr für die beiden Glocken, die an den Wänden hingen. Sie waren ungefähr faustgroß. Nichts, das man sich in den Kirchturm hängen würde. Es ließ sich dennoch eine Menge Krach mit ihnen erzeugen. Noch schöner war aber: Die Holzbretter, an denen sie baumelten, waren nicht festgenagelt. Sie waren lediglich eingehängt. Man konnte die Glocken abnehmen, vor sich auf den Tisch legen und auf dumme Einfälle kommen.

«Ey», sagte Frans, «die könnte man doch voll gut einstecken und damit rumbimmeln, wenn die Knaben nerven.»

Ich hatte eine bessere Idee. Eine bedeutend bessere Idee.

«Damit könnte man vor allem auch eine total geile Weckaktion machen», sagte ich.

Frans war sofort Feuer und Flamme.

«Ja, genau. Lass uns das mal machen. Das wird bestimmt so geil.»

Natürlich würde das geil werden. David hatte ja oft genug erzählt von jenem Brauch, den sie bei den Pfadfindern pflegten: Eine oder mehrere Personen griffen sich Töpfe und Pfannen, schlugen mit Löffeln und Kellen darauf ein und sangen:

music snippet

Immer mal wieder hatte ich vorgeschlagen, dass wir das hier im Knabenchor doch auch mal machen könnten. Dazu war es jedoch nie gekommen. Mich hatte das immer ein wenig gewurmt. Der Unterton in Davids Erzählungen war ja nun unüberhörbar gewesen: Er fand, dass die Pfadfinder cooler waren als wir. Erkannten wir nun einfach mal an, dass dem so war: Das würde sich schon bald ändern. Die Pfadfinder, diese Waisenknaben, würden wir gründlich ausstechen.

Auf dem Weg zum Zimmer zeigte sich, dass wir dabei aber in jedem Fall auf Davids Unterstützung angewiesen sein würden. Seine Fähigkeit, andere Menschen zu nerven, ließ einen immer wieder ahnen, was Genialität war. Auch heute glänzte er wieder durch Improvisationstalent mit Gespür für Vollendung: David verhielt sich wie eine alte Dame an der U-Bahn-Tür, wenn fünfzig Berufstätige und dreißig Schüler ihren Anschlusszug erreichen mussten. Erst drängelte er sich nach vorne, dann schlurfte er langsam vor sich hin und ließ niemanden vorbei. Ein Verhalten, mit dem man mich schon immer zur Weißglut hatte treiben können.

«David!», rief ich, wohl wissend, dass ich meine Situation damit nur verschlimmerte. Jetzt würde David den ganzen Rest des Weges schlurfen.

Ich versuchte, mich an ihm vorbeizuschieben. Doch anatomisches Wunder, das mein alter Freund nun einmal war, schaffte er es, beim Gehen die gesamte Breite des Korridors einzunehmen. Das waren nicht weniger als fünf Meter.

«David!», rief ich wieder. David genoss den Augenblick. Er hatte allen Anlass dazu, ihn noch ein wenig auszudehnen. Mein Mittel der Vergeltung kannte er inzwischen genauso gut wie ich.

Kaum im Zimmer angekommen, holte ich mein Handy hervor.

«Oh, bitte nicht, Lennart», sagte David, wohl wissend, dass er seine Situation damit nur verschlimmerte.

Zielstrebig rief ich das Killerspiel Tiberium Wars Mobile auf. Nicht, um zu spielen, sondern um die darin enthaltene Kampfmusik erklingen zu lassen. Sie war von geradezu meisterhafter Schrecklichkeit. Die kongeniale Interpretation meines Handy-Lautsprechers tat ihr übriges.

David flehte, David bettelte. Es half ihm genauso wenig, wie sich die Ohren zuzuhalten. Diese Klänge kannten kein Erbarmen, machten vor niemandem Halt. Ich schätzte, dass drei Minuten Zwangsbeschallung eine angemessene Strafe waren.

Danach hatten Frans und ich endlich Gelegenheit, unsere Idee vorzutragen. Die Glocken hatten wir selbstverständlich mitgenommen. Ein einziges Bimmeln genügte und alle wussten, mit was sie es zu tun hatten. Die Resonanz war überwältigend.

«Ja, geil», sagte Georg, «und ich spiel dann auf meiner Trompete Popcorn von Hot Butter

Das war doch eine ganz hervorragende Idee. Wir beschlossen, noch am nächsten Morgen zur Tat zu schreiten.

Wir schritten am nächsten Morgen jedoch nicht zur Tat. Niemand erhob sich, als mein Wecker klingelte. David behauptete, ihn überhört zu haben. Später gestand er, dass er ihn hatte überhören wollen. Am frühen Morgen kam einem selbst das härteste Bett plötzlich unsagbar bequem vor. Mir war es ganz ähnlich ergangen. Den anderen ebenso.

Am übernächsten Morgen wollten wir uns abermals nicht das antun, was wir den Knaben für zumutbar hielten. Niemand von uns wollte seine schönen Stunden im Bett abrupt beenden. Wir blieben liegen und schliefen weiter.

Der überübernächsten Morgen schließlich war der letzte in Schloss Noer. Er war unsere und meine letzte Chance. Ich würde auf der nächsten Chorfahrt nicht mehr dabei sein. Die Glocken ebenso wenig. Das war Motivation genug, mich zu erheben. Ich ging zu Davids Bett und schüttelte meinen alten Freund wach. Als er auf den Beinen war, waren es alle anderen auch. Wir griffen uns Glocken und Trompete und schlichen uns auf den Gang.

Dort öffneten wir die Türen der Knabenzimmer. Hineingehen wollten wir vorerst nicht. Die Glocken auf dem Gang ertönen zu lassen, würde voraussichtlich ausreichen. Der Krach, der sich mit ihnen erzeugen ließ, war phänomenal. Alleine der Nachhall verursachte leichte Ohrenschmerzen.

Wir blieben also auf dem Gang stehen. David zählte leise bis Drei. Wir schepperten los. Frans und ich mit den Glocken, Georg mit der Trompete. David brüllte dazu: «Morgenstund’ hat Schleim im Schlund! Guten Morgen! Aufstehen ist schön!» Wir unterstrichen diese Äußerungen mit einigen besonders kräftigen Glockenschlägen. Für David ein Anlass, es weiter zu bekräftigen: «Aufstehen ist schön! Aufstehen ist schön! Es ist schön!»

Das Schauspiel, das sich uns heute bot, würde keiner von uns jemals vergessen. Nie in meinem Leben hatte ich einen Haufen Achtjähriger so schnell vom Bett aufspringen und eine Tür zuwerfen sehen. Ein Knabe, der vor wenigen Sekunden noch tief und fest geschlafen hatte, stürzte sich voller Todesverachtung von der oberen Bettetage herunter. Fürwahr: Es war nicht nötig gewesen, ihre Zimmer zu betreten. Das hätte bei den Knaben nur bleibende Schäden hinterlassen.

Nachdem alle Knaben in unserem Gebäudeteil wach waren, begaben wir uns ein Stockwerk nach oben. Dort schliefen neben weiteren Knaben auch die älteren Männer. Letztere wohnten glücklicherweise alle im gleichen Flügel. Wenn wir jenen mieden, würden sie nichts mitbekommen, meinten wir.

Weit gefehlt.

Zwergo sprach am Frühstückstisch so sehr Klartext, wie man eben Klartext sprechen konnte, wenn man tiefgebeugt über seiner Kaffeetasse saß.

«Ihr seid Wichser. Ihr seid solche Wichser», grummelte er vor sich hin, «Ich ärgere mich ja vor allem, dass ich nicht darauf gekommen bin, aber ihr seid trotzdem Wichser.»

Er biss in sein Brötchen. Seine Ansprache war offensichtlich beendet. Plötzlich aber brach es aus ihm heraus: «Verdammt, warum bin ich nicht darauf gekommen, das mal zu machen?»

Eine Frage, die doch nun wirklich ganz leicht zu beantworten war: Weil einem Zwergo ein solcher Einfall nun einmal nicht kam. Ein solcher Einfall kam nur einem David, einem Frans, einem Guido oder einem anderen von uns Jungmännern. Und mochte die Zeit solcher Einfälle für mich auch bald zu Ende gehen: Ich würde voller Stolz behaupten können, ihre goldene Zeit entscheidend mitgeprägt zu haben. Wir hatten uns heute schließlich ein Denkmal gesetzt.