Im siebten Himmel

Perlen von Holstein Folge 204

St. Gertrud lag näher am U-Bahnhof Mundsburg als am U-Bahnhof Uhlandstraße. Ich stieg trotzdem bereits Uhlandstraße aus. Über den Namen der Station hatte ich mich als Kind oft gewundert. Was bitte hatte ich mir unter einer Uhlandstraße vorzustellen? Eine Straße, die nach einem Land benannt war, in dem alle Wörter mit U anfingen? Eine unterirdische Landstraße? Seit fünf Jahren wusste ich es: Die Uhlandstraße war nach Ludwig Uhland benannt. Jenem Mann, dem wir den Text zu Mendelssohns Frühlingsfeier zu verdanken hatten. Philipp konnte sich über ihn auch heute noch tüchtig in Rage reden. Grund genug, Ludwig Uhland zu würdigen und bei der nach ihm benannten Straße auszusteigen.

Als ich St. Gertrud betrat, fand ich eine leere Kirche vor. Etwas irritiert lief ich auf den Altar zu. Am Ziel angekommen, hörte ich Zwergo nach mir rufen.

«Komm bitte hoch, Lennart», sagte er, «wir machen die Aufnahme jetzt doch von der Empore.»

Herr Kaiser war mit den Rahmenbedingungen unserer CD-Aufnahme also immer noch nicht hundertprozentig zufrieden gewesen. Ob er es jetzt wohl war?

Ich ging zurück zum Eingang und stieg über eine schmale Wendeltreppe hinauf auf die Empore. Ein Großteil des Chores war bereits da.

Unser Chorleiter hatte Tage voller Entbehrungen hinter und noch mehr solcher Tage vor sich. Sein frisch geborener Sohn war schließlich noch nicht im schreifähigen Alter angekommen. Das würde erst in einigen Wochen der Fall sein. Wohl deshalb machte Herr Kaiser keinen sonderlich ausgezehrten Eindruck. Er wirkte im Gegenteil erstaunlich selig. Mit glänzenden Augen hielt er ein winziges schwarzes Textil in die Luft.

«Ihr könnt es euch sicher schon denken: Diese Socke hier gehört meinem Sohn», sagte er, «Die habe ich ihm heute Morgen stibitzt. Er guckte auch gleich ganz erstaunt.»

Herr Kaiser imitierte den Blick. Wobei imitieren in diesem Falle tatsächlich einmal nur imitieren hieß, nicht nachäffen.

Unser Chorleiter schwebte noch einige weitere Sekunden im siebten Himmel. Dann jedoch ging er gewohnt entschlossen zum Tagesgeschäft über. Einmal mehr betonte er, wie sehr er CD-Aufnahmen hasste und dass uns fünf anstrengende Tage bevorstünden. Anders als vor zwei Jahren würde er damit wohl Recht behalten. Damals hatten wir bekanntlich mehr gesessen als gestanden. Immer wieder hatte Herr Kaiser sich den Kopfhörer aufgesetzt, um sich einen eigenen Eindruck von dem zu machen, was der Tonmeister aufgenommen hatte.

Das hielt er diesmal für unnötig. Der Mann am Mischpult war nach seinen Angaben eine Koryphäe im Bereich der Knabenchor-Aufnahmen. Zudem saß er nicht mit uns auf der Empore, sondern in einem Raum hinter der Orgel. Unterstützt wurde er von zwei Assistenten. Wir konnten uns somit darauf einstellen, dass die Prophezeiungen des Probenplans eintreten würden: Heute acht Stunden stehen, morgen acht Stunden stehen und übermorgen vier Stunden stehen. Letzteres war wohlgemerkt kein Zugeständnis. Es war schlicht dem Umstand geschuldet, dass dann erster Schultag wäre und die Knaben nur nachmittags Zeit hatten.

Fürwahr: Die CD-Aufnahme war anstrengend. Sie war jedoch vor allem eines: Das routinehafte Absingen von viel zu oft durchexerzierter Musik. Alle Stücke waren irgendwie abgenutzt. Das galt für Evergreens wie Fröhlich soll mein Herze springen und für Neuzugänge wie Ex Sion gleichermaßen. Wir hatten sie inzwischen einfach viel zu oft gesungen. Zwar war ein Großteil der Proben in Schloss Noer ausgefallen, doch war es ja nun nicht so, dass wir die Stücke davon in diesem Jahr noch nie angerührt hätten. Erschwerend kam hinzu, dass die letzte Chorweihnacht gerade einmal acht Monate zurücklag. Vor allem aber war es nicht Dezember und wir standen hier nicht in einem vertrauten Altersheim. Es war Ende August und wir standen in einer uns fremden und überdies menschenleeren Kirche. Kein Ambiente, das für weihnachtliche Gefühle taugte. Von Farbe, Freude und Festlichkeit mochte man nicht einmal träumen.

Guido und ich waren dennoch bemüht, meiner letzten Wirkungsstätte etwas abzugewinnen. Den ganzen Tag sinnierten wir darüber, welch hervorragenden Partyschuppen er doch abgeben würde.

«Man könnte doch theoretisch draußen ein paar Scheinwerfer aufstellen, die dann abwechselnd durch die Kirchenfenster strahlen. Da hätte man bestimmt so geile Lichteffekte», sagte ich.

«Ja», erwiderte Guido, «und wenn man die ganzen Kirchenbänke ausbaut, hätte man ja auch eine riesige Tanzfläche.»

«Und in das Seitenschiff kommt dann eine Chillout-Lounge. Und was machen wir mit dem Taufbecken?»

«Da kommt die Bowle rein. Und in die Kanzel kommt der Gogo-Käfig.»

«Ich würde eher sagen: Da kommt der DJ rein.»

«Hm, das könnte man ja davon abhängig machen, welche Art von Party man macht.»

«Stimmt.»

«So eine Kirche ist echt mal der total geile Partyschuppen. Es ist alles da, man muss es nur entsprechend umbauen.»


Unser Mittagessen sollten wir im Gemeindehaus zu uns nehmen. Wir mussten also wieder von der Empore herunter. Theoretisch hätte uns dafür links und rechts von der Empore je eine Wendeltreppe zur Verfügung gestanden. Auf der einen Seite war jedoch die Tür abgeschlossen. Der gesamte Chor würde sich also durch eine einzige, rund achtzig Zentimeter breite Wendeltreppe zwängen müssen.

Aus irgendeinem fatalen Zufall heraus gingen David und ich als erstes. Mir fiel auf dem Weg wieder ein, wie mein alter Freund in Schloss Noer sich erst nach vorne gedrängelt hatte und dann gemütlich vor sich hingeschlurft war. Ein Schabernack, der sich hier, auf der achtzig Zentimeter breiten Treppe doch gut kultivieren ließ.

Ich schob mich an David vorbei und begann mein schändliches Werk. Mein alter Freund begriff sofort. Wieder und wieder versuchte er, sich gewaltsam an mir vorbeizuzwängen. Indes bildete sich hinter uns eine große Traube aus Knaben. Ein Kollateralschaden, den wir billigend in Kauf nahmen. Die Knaben ließen sich zudem nicht lange bitten: Sie versuchten ebenso, sich gewaltsam an mir vorbeizuzwängen. Das wäre ihnen auch um ein Haar gelungen, leider war inzwischen die unterste Stufe der Wendeltreppe erreicht. Doch würden wir sie im Laufe der nächsten Tage noch einige weitere Male alle gemeinsam betreten.

Im Gemeindehaus angekommen, holte David seinen iPod Touch hervor. Er wollte mir, mal wieder, etwas zeigen. Auf dem Gerät war ein Killerspiel enthalten, das eindrucksvoll demonstrierte, dass so ein iPod Touch wirklich alles überflüssig machte. Sogar eine Holzkiste mit einer Murmel darin. Eine Murmel nämlich war es wohl, die in besagtem Killerspiel in der Mitte des Spielfelds lag. Diese musste man nun durch Schwenken des Geräts auf die Seite des gegnerischen Spielers rollen lassen. Jener musste dagegen anschwenken.

David und ich nahmen die Herausforderung an. Wir umklammerten je eine Seite des iPod Touch und begannen sie: Die Mutter aller Schwenk-Schlachten. Anfangs saßen wir noch, schnell jedoch standen wir und liefen im Raum umher, das Gerät noch immer fest umklammernd. Die Knaben johlten. Herr Kaiser dagegen blickte streng.

Es war schon interessant, wie viel Aufsehen ein Killerspiel erregen konnte, dass völlig ohne Gewalt auskam. Eines, in dem ‹den Gegner besiegen› tatsächlich nur ‹den Gegner besiegen› hieß. Ansonsten war ‹besiegen› ja allzu häufig ein Synonym für ‹jemanden über den Haufen schießen›. Bei Age of Empires 2 war es eines für ‹Stadt dem Erdboden gleich machen und die Bevölkerung ausrotten›. Es war wichtig, das zu wissen. Dem Spieler musste schließlich bewusst sein, was erwartet wurde, wenn er als Atilla der Hunne die Anweisung erhielt: ‹Besiegen Sie Mailand, Padua, Verona und Aquileia›.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Jahrhundertelang enthielten Noten keinerlei Hinweis darauf, wie ein Stück zu spielen ist. Vom Musizierenden wurde erwartet, dass er das eben weiß. Erst im 17. Jahrhundert rang man sich dazu durch, ihm durch zumindest eine Vorstellung zu geben. Zu mehr als einem ‹Allegro› oder ‹Adagio› konnte man sich aber noch immer nicht durchringen. Beethoven gab hingegen oft schon sehr präzise Anweisungen. Sein Versuch, das Wort ‹Allegro› mit all seinen Facetten ins Deutsche zu übersetzen, schoss indes übers Ziel hinaus: ‹Geschwinde, doch nicht zu sehr, jedoch mit Entschlossenheit›. Plastischer war da doch die Wortwahl Paul Hindemiths. ‹Wild. Tonschönheit ist Nebensache›, überschrieb er ein Stück.

Die Schwenk-Schlacht verlief ergebnislos. David und ich setzten unsere Auseinandersetzung auf verbaler Ebene fort. Sehr zur Freude der Knaben. Einige feuerten David, andere mich an.

«Lennart, es zeigt sich doch wieder: Was mich von dir unterscheidet, ist meine Überlegenheit», sagte David.

«Hahaha, du könntest ‹Überlegenheit› doch gar nicht definieren, mein Freund», erwiderte ich.

«Doch, das könnte ich schon. Das Schöne ist doch, dass mein wesentlich komplexerer Verstand deinen einfach gestrickten simulieren kann. Umgekehrt funktioniert das nicht. Und deswegen könnte ich es nicht nur erklären, sondern sogar so, dass du es verstehst.»

«Ach, könntest du das? Also ich könnte es nicht. Mein Gehirn ist deinem so überlegen, dass es nicht mehr in der Lage ist, derartige Einfältigkeit überhaupt noch nachvollziehen zu können. Eine einzige Synapse leistet bei mir doch mehr als dein ganzes Großhirn.»

«Nein, in Wahrheit kannst du die ganze Überlegenheit meiner Äußerungen nur überhaupt nicht nachvollziehen und deswegen musst du dich hier jetzt in solche Vergleiche flüchten. Ey, ehrlich, das ist sowas von arm.»

«Über mir kannst du ja nur sein, weil wir oben und unten definieren. Und das können wir nur, weil wir auf einem Planeten stehen, der Schwerkraft hat. Ja, aber stell dir mal vor, jemand der auf der südlichen Erdhalbkugel steht, wird für jemanden, der es vom Weltraum aus betrachtet, nach oben gezogen, meint aber selbst, nach unten gezogen zu werden. Oben und unten ist also nur eine Frage der Perspektive und nichts Festes. Dein Oben-Unten ist also nur ein schäbiges System, dem sich jemand, der die Wahrheit erkannt hat, nicht unterzuordnen braucht.»

«Ach, dass du dich einfach nicht ohne irgendwelche Bildnisse ausdrücken kannst. Du tust mir so leid, Lennart.»

«Weißt du, was mir leid tut, Alter? Mir tun die Luftatome leid, die durch dein Gelaber in Schwingungen versetzt werden und den niederen Sinn deiner Äußerungen ergeben müssen.»

David bekam einen schweren Lachanfall.

«Lennart, du bist echt der krasseste Dummschwätzer aller Zeiten, weißt du das?», sagte er. Aus dem Munde Davids das größte vorstellbare Kompliment

Unsere Auseinandersetzungen mussten fürs Erste ruhen. Mir war gerade eingefallen, dass ich ja noch in Brandenburg anrufen wollte. Es waren noch Dinge bezüglich der Wohnung zu klären, die ich in sechs Tagen beziehen würde. Was hatte ich nochmal fragen wollen?