Im Hier und Jetzt

Perlen von Holstein Folge 205

Am vierten Tag der CD-Aufnahme schien das Ende meiner Chorlaufbahn noch immer ganz weit weg zu sein. Die Fahrt zu St. Gertrud kam mir inzwischen ein wenig wie der tägliche Weg zur Schule vor. Ich ging wie üblich zu spät los und musste den Weg zur Bushaltestelle Langenfelder Damm rennen. Zu meinem Glück lag sie hinter einer Kreuzung, deren Ampel noch immer auf meiner Seite gewesen war. Das war im Übrigen auch der Grund, dass ich nicht von der nähergelegenen Station Basselweg fuhr.

Mit dem Bus ging es zur U-Bahnhaltestelle Osterstraße. Von hier hätte ich eigentlich durchfahren können: Die Haltestelle Uhlandstraße lag auf der gleichen Linie, der U2. Das sollte sich jedoch demnächst ändern, der Streckenabschnitt würde der U3 zugeschlagen werden. Die Umwidmung würde zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem ich schon nicht mehr Bewohner der Freien und Hansestadt Hamburg wäre. Ich musste dennoch bereits jetzt jeden Tag an der Haltestelle Berliner Tor umsteigen. Die Zukunft hatte nicht nur in unserem Chor bereits begonnen.


In St. Gertrud angekommen, wurden wir bereits von Herrn Kaiser erwartet. Auch heute hatte er wieder eine Socke seines Sohns mitgebracht. Heute eine bunt geringelte. Gestern war es eine gepunktete gewesen. Die morgige würde vermutlich gescheckt sein.

Man konnte sich fragen, warum unser Chorleiter mit der Präsentation des Textils nicht bis zum Nachmittag wartete. Dann wären die Knaben da, die das anders als uns interessierte. Wir Männer waren vor allem gekommen, um jetzt das einzige Männerchorstück der CD aufzunehmen: Salve Regina, der gregorianische Choral. Eine Repertoire-Entscheidung, über die selbst Imanuel ein wenig die Nase rümpfte.

«Mal ehrlich: Man hört eine Weihnachts-CD und dann kommt da dieses furztrockene Salve Regina. Also ich weiß ja nicht, ob ich da Bock drauf hätte.»

Ich konnte mich ebenso nur wundern. Wenn es schon unbedingt eine dieser einstimmigen Nummern sein musste, warum dann nicht das Magnificat von Dyson? Das passte inhaltlich zu Weihnachten und war alles andere als furztrocken. Noch lieber wäre mir aber gewesen, wir hätten das vierstimmige Zu Bethlehem geboren aufgenommen. Es waren doch nun wirklich genug anwesend, dass eine ausreichende Besetzung gewährleistet war. Ein Umstand, auf den ich unseren Chorleiter natürlich hinwies. Herr Kaiser hatte sich jedoch aus einem anderen Grund gegen das Stück entschieden.

«Der Satz von Zu Bethlehem geboren stammt von einem Hauskomponisten der Windsbacher und das könnte rechtlichen Ärger geben.»

Das erschien mir wenig plausibel. Nahmen wir jetzt einfach mal an, der Windsbacher Knabenchor hätte nichts Besseres zu tun, als uns den Kadi zu zerren: Dafür lieferten wir ihnen nun wirklich genug andere Gründe. Gut vier Fünftel der Stücke unserer CD war auf irgendeinem ihrer Tonträger vertreten. Die meisten auf Psallite, singt und klingt! Schon der Name dieser Scheibe war dem unserer – Hört, es singt und klingt mit Schalle – auffallend ähnlich.

Die inhaltlichen Anleihen gingen noch viel weiter. Immer hatte ich mich gefragt: Warum hatte Herr Kaiser bei Fröhlich soll mein Herze springen die Strophe Ei, so kommt und lasst uns laufen durch Ich will dich mit Fleiß bewahren ersetzt? Jetzt wusste ich es. Und damit nicht genug. Das letztes Jahr ins Weihnachtsprogramm aufgenommene Zur stillen Nacht würde auf der CD nicht zu finden sein. Herr Kaiser verzichtete auf die Weltersteinspielung des Satzes zugunsten von Nun komm der Heiden Heiland, dem vierten Stück auf Psallite, singt und klingt!

Auch konzeptionell waren die Parallelen unübersehbar. Die Windsbacher ließen sich auf ihrer CD von einem Trompeter begleiten. Sie wurde hierdurch hörbar aufgewertet. Herrn Kaisers Einfall, unser Programm durch ein Blechblasensemble ergänzen zu lassen, erschien da eigentlich nur wie eine folgerichtige Weiterentwicklung.

Wer wollte es unserem Chorleiter aber auch verdenken? Die Windsbacher waren nun einmal in allen Bereichen führend. Selbst wir nutzten die Pause, um eine ihrer CDs zu hören. Ich spielte Frans Cantate Domino von Miškinis vor. Das tat ich freilich zur allgemeinen Belustigung. Frans konnte das Stück genauso wenig leiden wie wir alle. Das Cover war überdies unfreiwillig komisch. Es zeigte das Innere einer unfassbar beeindruckenden Klosterruine. Um das Letzte aus dieser Szene herauszuholen, ließ der Grafiker die Sonne durch die Fenster scheinen. Eine Sonne, die dem Verhalten ihrer Strahlen zufolge ein leuchtender Flummi war, der hinter dem Gemäuer umhersprang.


Die Aufnahmearbeiten von Salve Regina verliefen ohne Komplikationen. Bedingt durch die Belastungen der vergangenen beiden Tage schmerzten meine Beine heute bereits nach fünf Minuten. Ansonsten aber fühlte ich mich körperlich durchaus in der Lage, den weiteren Strapazen standzuhalten. Den übrigen Männern ging es wohl ähnlich.

Anders sah die Sache bei den Knaben aus. Bereits gestern hatte einer von ihnen einem Altersgenossen gestanden: «Ich hasse CD-Aufnahmen!» Entsprechend mitgenommen sahen er und die anderen Knaben aus, als sie heute Nachmittag eintrafen. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen: Es würde jetzt wohl nicht ganz so laufen, wie unser Chorleiter sich das vorstellte. Auch Herr Kaiser konnte sich das sicher denken. Er war dennoch mehr als erbost.

«Wenn ihr dermaßen absackt, wird kein Tonmeister der Welt die Intonation mehr retten können», sagte er, um sich fünf Minuten später selbst zu widersprechen: «Wenn das am Ende auf der CD intonationsmäßig alles in Ordnung ist, dann ist nichts davon euer Verdienst. Das ist alles die Leistung des Tonmeisters. Er ist ja zum Glück in der Lage zu korrigieren, was ihr hier heute wieder zusammensingt.»

Der Tonmeister nahm derartige Tiraden schweigend zur Kenntnis. Er wartete, bis Herr Kaiser zu Ende geschimpft hatte und trug dann freundlich seine Anmerkungen vor. Sie waren immer sachlich. Werturteile äußerte er nicht, zumindest keine negativen. Sofern er sich seinen Teil dachte, behielt er ihn für sich. Er hielt sich so im Hintergrund, wie man es wohl von einem Tonmeister erwartete. Schon in seinem Auftreten war er unscheinbar. Seine Haare waren zwar gepflegt, aber lang und sein Kleidungsstil denkbar leger. Seine Expertise im Bereich der Knabenchöre kam indes nicht von ungefähr. Er hatte früher selbst in einem gesungen. Seine beiden Assistenten ebenso. Einer der beiden war nach Angaben Imanuels bei den Thomanern rausgeflogen, nachdem er Kritik an den dortigen Strukturen geäußert hatte.

Das Stück, das uns heute so zur Verzweiflung trieb, war im Übrigen Es ist ein Ros entsprungen. Es teilte sich mit Es kommt ein Schiff, geladen und Fröhlich soll mein Herze springen die Ehre, von mir seit 1997 in jeder Weihnachtssaison gesungen worden zu sein. Was es von den beiden anderen Stücken unterschied, war der Umstand, dass es mir nicht gefiel. Ich hatte es von Anfang an nicht recht gemocht und festgestellt, dass ich es mit jedem Jahr weniger leiden konnte. Vergangene Weihnacht war die Aversion dann in blanken Hass umgeschlagen.

Herr Kaiser hatte den Einfall gehabt, dass wir zusätzlich zu dem bekannten Satz von Michael Praetorius auch einen von einem gewissen Jan Sandström singen könnten. Jan Sandström war ein zeitgenössischer Komponist, sein Satz von Es ist ein Ros entsprungen war jedoch alles andere als modern. Er war im Gegenteil so althergebracht, wie Musik es nur sein kann. Die Chorstimmen entsprachen Note für Note der Komposition von Praetorius. Sie waren jedoch erheblich verlangsamt worden. Statt maximal einer dauerte eine Strophe nun mindestens fünf Minuten. Dieses Spektakel der Trägheit wurde von einer nicht weniger langsamen Orgelbegleitung komplettiert. Sie stammte offenbar tatsächlich von Sandström selbst.

Ein Stück, das so lange und so träge sein muss, ist nicht mal eben in zehn Minuten geprobt. Eine geschlagene Dreiviertelstunde hatten wir in St. Johannis-Harvestehude gestanden und daran gefeilt. Philipp und ich wären Herrn Kaiser am liebsten an die Kehle gesprungen. Philipp hatte über die Komposition Sandströms nur die Nase rümpfen können. Bereits den Satz von Praetorius hatte er wenig überzeugend gefunden.

«Guck dir alleine mal den Anfang an: Drei Mal hintereinander die gleiche Funktion», hatte er zu mir gesagt.

«Hä? Beim dritten Mal kommt da doch was anderes», hatte ich erwidert.

«Ja, Alt und Tenor tauschen da mal die Töne. Es ist trotzdem die gleiche blöde Funktion, der gleiche blöde F-Dur-Akkord. Ehrlich, ey: Drei Mal hintereinander die Tonika, wie einfallsreich!»

Ich hatte Philipps Ausführungen nicht recht folgen können, ihm aber schon aus Prinzip beigepflichtet. Es ist ein Ros entsprungen war schon eine ziemliche Plage. Eigentlich fiel mir nur eine positive Sache dazu ein: Wenn wir früher bei ‹wahr’ Mensch und wahrer Gott› das ‹Mensch› und das ‹und› nicht deutlich genug getrennt hatten, hatte Frau Siebenkittel immer gesagt: «Eine neue Hunderasse: Ein Menschhund.»

Ich hatte die Befürchtung gehabt, dass Herr Kaiser uns dieses Jahr erneut mit dem Satz von Sandström traktieren würde. Doch hatte unser Chorleiter Erbarmen gehabt. Wir sangen nur die Fassung von Praetorius. Den Satz von Sandström übernahmen die Blechbläser. Erquicklicher wurden die Aufnahmearbeiten an Es ist ein Ros entsprungen dadurch kaum. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass auch die anderen es nicht wirklich mochten. Doch was sollte man machen? Das Stück gehörte nun einmal dazu. Weihnachts-CD ohne Es ist ein Ros entsprungen, das war wie Killerspiel ohne Kanalisation. Letzteres war als Tradition aber wenigstens jung genug, noch hin und wieder hinterfragt zu werden.


Der Tag endete wie die beiden vorherigen. Kaum dass Herr Kaiser die heutigen Aufnahmearbeiten für abgeschlossen erklärt hatte, stürmten David und ich zur Wendeltreppe. Dieses Mal war mein alter Freund schneller als ich. Genüsslich umfasste er die beiden Geländer und schlurfte los. Ich mühte mich nach Kräften, mich gewaltsam an ihm vorbeizuzwängen. Vergeblich.

Die Knaben kannten das Spiel mittlerweile. Dennoch hatte sich keiner von ihnen die Mühe gemacht, vor uns an der Treppe zu sein. Zwei von ihnen schienen gar extra gewartet zu haben. Nun aber kamen sie in Scharen herbeigerannt. Einer nach dem anderen schoben sie sich an mir vorbei. David gelang indes das Kunststück, sie passieren zu lassen und mir den Weg zu versperren. So bildete sich am unteren Ende rasch eine johlende Knabenmeute. In Sprechgesängen stellten Soprane und Alte klar, dass keiner von ihnen gehen würde, bevor David und ich unten angekommen waren. Und das würde noch ein Weilchen dauern. Ob ihnen in diesem Augenblick überhaupt bewusst war, dass wir diesen Spaß bereits morgen zum letzten Mal erleben würden?