Im Knabenchor musikalisch und auch sonst groß geworden
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Im Herbst 1994 unternahmen wir eine Konzertreise nach Berlin. Im Rahmen des Bildungsprogramms, welches zu einer Konzertreise gehört, wie der HSV zur Ersten Bundesliga – ja, liebe Leser, spätestens am 17. Mai 2020 werden wir wieder da sein! Aber ich schreibe hier nicht für den Kicker, sondern für die Synkope.
Also, 1994 – Konzertreise – Berlin - Bildungsprogramm. Weiter im Text, ein Teil des Bildungsprogramms führte uns nach Potsdam und dort natürlich in den Park Sanssouci, wo König Friedrich II von Preussen, einigen von Euch sicherlich besser bekannt als der Alte Fritz, begraben liegt. Ich kannte Sanssouci und den alten Fritz sehr gut und so kam ich beim Erzählen vom Hölzchen aufs Stöckchen, wie man so schön sagt. Die Jungs lauschten meinen Ausführungen, sicherlich hingebungsvoll und superinteressiert ☺︎. Jäh unterbrach mich schließlich ein neunjähriger Knabe: «Hast du den selbst gekannt?». Er meinte die Frage durchaus ernst. Dennoch brachte er mich innerlich zum Erbleichen. Der alte Fritz war immerhin bereits 1786 gestorben, und ich bin 1961 geboren. Also sagte ich mir später, Totto, jetzt bist Du auch so ein alter Knacker geworden, einer dem man ein Schwarzweißfoto hinhalten kann und der dann weiß, wer darauf zu sehen ist.
Also, dann werde ich mal in meinem innerlichen schwarz-weißen Fotoalbum blättern. Nach den Sommerferien 1970 kam ich vom Vorchor in den Hauptchor. Und ich fühlte mich zunächst unterirdisch klein unter all den teilweise älteren Knaben. Im Gegensatz zu heute war ein vierzehn- oder fünfzehnjähriger Sopran oder Alt keine Seltenheit. Unser Probenraum war im Turmweg, in der Schulaula. Die Proben fanden Montags und Donnerstags statt, am Donnerstag mit den Männern. Wir wurden erwartet von Horst Sellentin, dem damaligen Chorleiter und Chorgründer. Und auf dessen Seite in meinem Fotoalbum bleibe ich mal ein wenig stehen. Horst Sellentin, geboren 1920 in Berlin, wollte zunächst Cellist werden. Ein Schulterschuss beendete nicht nur seinen Fronteinsatz, sondern auch eine vielversprechende Karriere.
Daher geriet er, ausgestattet mit einem sehr schön timbrierenden Bariton, zum NDR-Chor. Dort entstand dann auch der Gedanke, sämtliche Bachkantaten in Originalbesetzung aufzunehmen, wofür es einen Knabenchor brauchte. Um diesen Chor zu realisieren hat man – so fürchte ich – den Knabenchor des Eppendorfer Gymnasiums geplündert. Dieser Knabenchor hatte bis dahin an den Kantatenaufnahmen mitgewirkt, die seit 1957 regelmäßig aufgenommen wurden. Ab 1961 wurde exklusiv der hauseigene Knabenchor beschäftigt – die erste Aufnahme ist bei Youtube unter Es ist nichts gesundes an meinem Leibe zu hören.
Zurück zu Horst Sellentin. Er war ein lieber zuweilen etwas knorriger Musikpädagoge mit einem sagenhaften Händchen für Knaben. Er war ziemlich pedantisch in der Vorbereitung aber auch in der Durchführung der Proben. Die Sitzordnung war keineswegs dem Zufall überlassen. Auf jedem Stuhl lag die Mappe mit den Sachen, die gerade anstanden. Allerdings, geraucht hat er wie ein Schlot, Zigarre. Ein wohliger Geruch, den ich noch heute in der Nase habe.
Man merkte an seiner Chorleitung aber auch, dass er im sogenannten Dritten Reich beim Militär gewesen ist. Die Programme der jährlichen Chorfreizeiten wimmelten von Begriffen wie Kameradschaftsabend, Burschenabend, Geländespiel und so weiter. Mein Vater, geboren 1934, runzelte ein wenig die Stirn darüber und knurrte: «Ich dachte, das hätten wir mit der Hitlerjugend entsorgt.» Das wars dann aber auch. Und wir hatten tolle Freizeiten, liebevoll mitbetreut von seiner Frau Johanna.
Sellentin war ein feiner Kerl, der einen hohen Preis für diesen Scheißkrieg – O-Ton Helmut Schmidt – gezahlt hatte. «Ich will, dass ihr anständige Menschen werdet, die so etwas nie erleben müssen. Gute Sänger sind meistens anständige Menschen». Leider starb er viel zu früh, 1973, dreiundfünfzig Jahre alt. Zu früh für ihn, seine Familie und uns, seine Knaben. Danach geriet der Chor einige Jahre in kabbelige See. Vier bis fünf Chorleiterwechsel in vier Jahren. Fast wie beim HSV die steten Trainerwechsel. Im Jahre 1975 kam die Wende, neuer Chorleiter, neue Stimmbildnerin, es ging voran. Aber davon vielleicht später mehr, es gäbe noch viel zu erzählen.