In meines Herzens Grunde
Ein persönlicher Rückblick auf zwei Jahre Chorarbeit
Am 28. Februar 2020 – wie lange ist das her! – sprachen alle über Corona, diese neue Krankheit – Dieses Virus, das begann, um die Welt zu gehen; uns dabei aber, trotz sich häufender Fälle in Deutschland und Hamburg, noch so fern und unwirklich schien. Am 28. Februar 2020 fand die letzte Probe des Hauptchores vor den damaligen Märzferien statt – Wir saßen in unserem Probenraum, sangen Stuhl an Stuhl und schliffen an Bachs Johannespassion, auf bestem musikalischen Weg zur Aufführung Anfang April. Was wir nicht ahnten: Es sollte die letzte normale Probe bis heute sein.
In den Märzferien 2020 noch reisten meine Familie und ich nach Ungarn; neben erholsamen Tagen trafen wir uns mit einigen Gastgebern unserer intensiv geplanten Konzerttournee. Die Vorfreude auf Oktober 2020 war groß. Doch im Hintergrund bereits machte sich eine seltsame Vorahnung breit – Was kommt da auf uns zu? Bald überschlugen sich die Ereignisse. Sinnvoll und traurig zugleich fiel alles wie ein Kartenhaus zusammen. Kein Probenwochenende des Hauptchores, keine Johannespassion, kein Probenwochenende des Männerchores. Kein Vorchorkonzert. Keine Ungarntournee. Gar keine Proben. Auf deutsch: Lockdown.
Was macht ein Chorleiter ohne Sänger?
Oder: Was macht ein Maler ohne Leinwand? Was macht ein Schiffskapitän ohne Wasser? Schnell wurde mir klar, dass der Kahn weiterfahren sollte und wollte, dass wir eine neue Leinwand benötigen. So ging der erste Auftrag an die Hauptchorsänger raus: Singt ein oder zwei Choräle aus der Johannespassion, macht einen Film davon – her damit! Parallel eignete ich mir eine Video-Software an, um alle individuellen Beiträge akustisch über- und optisch nebeneinander auf den Bildschirm zu bringen. Crashkurs Digitalisierung. Was daraus entstand, war mehr als das, was man in den kurzen Filmen hört und sieht: Wir sind zwar allein zu Haus, aber wir gehören zusammen. Wir singen trotzdem, irgendwo und irgendwie.
Ebenso wichtig war mir, die musikalische und stimmliche Entwicklung unserer Ensembles, unserer Jungs fortzusetzen, keine Lücke entstehen zu lassen, Regelmäßigkeit zu erhalten, im Repertoire weiterzugehen, neue Ziele zu setzen. Zuerst Ernüchterung: Gemeinsam vor dem Bildschirm sitzen und singen, da stößt die Technik sogar bis heute an ihre Grenzen. Stichwort Latenz. Ein Versuch mit einigen Männerstimmen war nach einer halben Strophe von Schuberts Heilig beendet.
Plan B: Selber loslegen – Videos erstellen und Proben simulieren. Fortan saß ich täglich vor der Handykamera, für Hauptchor und Vorchöre. Zwischendurch mit meinen Kindern spielen, in der verwaisten Stadt ein paar Lebensmittel kaufen. Abends dann alles zusammenschneiden, ein paar Spezialeffekte einbauen und das nächste Video konzipieren. Eine gewisse Vorahnung, welche Takte kompliziert, welche Phrasen wiederholungsbedürftig und welche Stimmgruppen allergisch auf bestimmte kompositorische Eigenheiten sind, ist mir als Chorleiter ja quasi angeboren. Meist sang ich am Klavier begleitend alle Stimmen einzeln vor und führte so an neue Stücke heran oder festigte Altbekanntes: Mal mit Übungen zum Rhythmus, mal mit stimmbildnerischen Elementen oder Schulung im Intervallsingen, mal eine alte Konzertaufnahme unseres Chores dirigierend. Bei aller Merkwürdigkeit ergaben sich auch manche Möglichkeiten, die in einem Video komprimierter vermittelbar sind als in einer echten Probe: Mit eingeblendeten Bildern zur Texterinnerung, mit Gemälden zur Umrahmung einer historischen Epoche oder einem kleinen Komponistenporträt, mit einem kurzen ungarischen Sprachkurs – Aber, ganz ehrlich, eine Probe ohne Gegenüber, das ist wie Schwimmen ohne Wasser, wie Fußballspielen ohne Mannschaft, wie Kochen ohne Küche. Ich kam mir jedenfalls recht eigenartig vor.
Um auch ein paar Lebenszeichen vom anderen Ende der Leitung zu spüren, initiierte ich weitere Mitmach-Projekte: Der Vorchor Eins erweiterte sein Begrüßungslied um dutzende Lieblingsdinge, die ich jede Woche zugeschickt bekam und einbaute. Alle Vorchöre malten und bastelten bunte Bilder zu unserem Tierliederprogramm, die ich in einer Collage und in einem Video verewigte. Ein weiterer Film der Vorchöre bot den Jungs die Möglichkeit, alle Freunde und Mitsänger in kreativer Weise zu grüßen. Und auch der Hauptchor durfte nochmals tätig werden und mit einem Gedicht, Bildern und der klangvollen Motette Light Everlasting ein schönes Kunstwerk schaffen. Beim Bearbeiten und Zusammenschneiden all dieser liebevollen Beiträge war ich immer wieder tief berührt von den Stimmen und der Stimmung, von meinem Chor. So nah und doch so fern.
Nach den Maiferien 2020 schien Licht am Ende des Lockdown-Tunnels. Präsenz reloaded in kleinen Gruppen. Mindestabstand zweieinhalb Meter, Desinfektionsmittel an den Händen und Maske vor dem Gesicht. Das barg neue Herausforderungen. Denn ist es noch eine Gemeinschaft, wenn jeder auf seiner einsamen Insel, beinahe für sich alleine singt? Robinson Crusoe und Freitag waren wenigstens zu zweit – Mittlerweile haben wir uns fast daran gewöhnt, aber es verlangt musikalisch und persönlich sehr viel: Konzentration, Kondition, Mut, Kopf, Körper, Stimme. Das betrifft alle, vor allem aber die jeweils Gruppenjüngsten, die sich im neuen Ensemble mit neuen Mitsängern, neuem Probentempo, neuem Klang und Repertoire erst einmal einhören und -fühlen müssen. Und denen die sonst lückenlose pädagogische und musikalische Hinführung, also ein Teil der Ausbildung, fehlt.
Zurück zu den Lichtblicken: Die Sommerproben des Hauptchores fanden zwar 2020 und 2021 nicht als Reise, sondern im heimischen Mittelweg statt. Auf der Wiese. Doch am 31. Juli 2020 konnten sich, nach 154 Tagen, erstmals wieder alle Hauptchorsänger vereinen. Wir haben gesungen und Bingo gespielt, tatsächlich Bingo!
Bingo könnte unser neues Fußball werden. Aber Spaß beiseite. Es war einfach nur schön! Am 20. September 2020 folgte sogar ein Herbstkonzert, in Trittau, ebenfalls auf Gras, und Petrus meinte es mit der Sonne etwas zu gut. Die Weihnachtssaison hingegen kannte fast nur Absagen; einzig ein Digitalkonzert am 13. Dezember 2020 in der Hauptkirche St. Jacobi war noch realisierbar. Ohne Publikum, dafür mit Filmcrew vor Ort, der Chor im gesamten Mittelschiff verteilt. Weihnachtsgesänge sowie Lesungen von einigen Hauptchorknaben. Das allerdings war ein voller Erfolg, für unsere Herzen und zahlreiche Zuschauerinnen und Zuschauer am Bildschirm.
Es folgten die ersten Monate des Jahres 2021. Lockdown reloaded. Irgendwie vorhersehbar, wie eine Klippe, die jeder kannte, doch vor dem tiefen Fall nicht wahrhaben wollte. Und wieder grüßte das tägliche Murmeltier – Videos! Ein 41teiliger Neujahrskalender für die Vorchöre, jeder Teil ein neues Lied. Ein komplettes Hauptchorrepertoire mit nord- und osteuropäischen Komponistinnen und Komponisten. Filme mit Split- und Greenscreen für cantus novus, unsere Männerstimmen. Bei aller Freude am eigenen kreativen Austoben immer die Frage: Wie lange denn noch? Wann hört Sehnsucht auf und setzt Entfremdung ein? Und als mir langsam die Töne auszugehen drohten, ein paar Repertoire-Evergreens für den Hauptchor dazu. So entstanden in beiden Lockdowns über 100 Videofilme.
Zudem versammelte sich der Hauptchor bei Zoom. Immer freitags, eine Stunde. Einziger Vorteil: Sich mal live und in Farbe zu sehen, kurz zu plaudern. Zum Singen aber gingen alle Mikrofone auf stumm, Chor ad absurdum – Wenn wir musizieren, da geht es zunächst um die richtigen Töne zur richtigen Zeit; aber das ist erst der Anfang, beziehungsweise: das ist noch keine Musik. Die entsteht aus den Momenten heraus, in denen wir uns gegenseitig den Kopf frei machen und uns beflügeln und befeuern. Wir verweben, in der Gleichzeitigkeit dieser Augenblicke, eine musikalische Idee zu einem übereinstimmenden Gefühl – oder umgekehrt – und erreichen Einklang. So werden Töne zu Farben und Licht und Chorklang zu Magie. Und deshalb ist Chorsingen nicht fürs Digitale gemacht – oder umgekehrt –, sondern ein Ding von Menschen in einem realen Raum.
Beste Beweise sind unsere ersten Konzerte und Fahrten, die seit Mitte 2021 wieder stattfinden. Herbstkonzert für die Hauptchorfamilien in St. Johannis-Harvestehude, Weihnachtsmotetten in St. Jacobi und Michel. Probenwochenenden im Sunderhof. Getestet, geimpft, geboostert, abstandsvermessen. Mit aller Vorsicht, doch dem wachsenden, befreiten Gefühl, dem schönsten Hobby der Welt nachgehen zu können. Es war und ist nicht immer leicht, die Fähigkeiten von Konzentration, Spannung und Tonsicherheit wieder zu erlangen, dabei sich in ein nach zwei Lockdowns gewandeltes Ensemble einzuklinken. Viele, die beispielsweise die Johannespassion einst im Sopran oder Alt lernten, singen heute in den Männerstimmen oder sind ganz neu dabei. Lücken tun sich auf zwischen Anfängern in den jeweiligen Chorgruppen und alten Hasen, die von beiden Seiten viel Entgegenkommen, Geduld und Aufholen bedürfen. Aber wer kriegt das hin, wenn nicht wir?
So wurde die besagte Johannespassion zum bisher unumstrittenen Höhepunkt des aktuellen Kalenderjahres. Vor dem Altar der Kulturkirche Altona, am 9. April 2022, mit dem Hamburger Barockorchester und Solisten. Mitreißend und berührend. Ein Spannungsbogen voller Musik, ich hatte mehrfach Gänsehaut. Unabhängig von aller Corona-Thematik war dieser Abend schon eine herzbewegende Leistung, doch natürlich war auch das Momentum aufwühlend. Unser Publikum war ein Spiegel dessen, ergriffen und fasziniert und am Ende mit einem Applaus, der seinesgleichen sucht. Kein Hauptchorsänger, den der berechtigte Stolz über dieses Kunststück nicht um viele Zentimeter hat wachsen lassen.
Das Schönste daran: So kann und soll es weitergehen. Corona hat dankbar gemacht. Mit Vorchorauftritten, der Hauptchorreise nach Ungarn – nun auch endlich! – sowie einem Festival mit drei anderen norddeutschen Knabenchören und vielen Konzerten im Advent. Und neuen Musikvideos: Diese allerdings nicht allein zu Haus, sondern mit allen tollen Sängern gemeinsam vor einer einzigen Kamera.